Frank Göhre, So läuft das nicht, Roman, Aisthesis Verlag, Bielefeld, 2014, Hrsg.: Walter Gödden, S.183, 12, 80 Euro
Das Ruhrgebiet in der Mitte der 1970er Jahre, als es noch von Kohle und Industrie geprägt war. Jens, Antje, Jule, Otto, Rita, Carsten, Bernadette, Hugo, Fred, Petra und Charly sind eine Clique, junge Leute, die erwachsen werden müssen. Was sie eint, ist das Viertel, aus dem sie stammen, die Jugend und der Zeitgeist. Was sie trennt, ist ihre jeweilige Herkunft, sind die Ressourcen und Beschränkungen in ihren Familien. Nichts Spektakuläres passiert. Erwachsen müssen schließlich alle Leute werden.
Das Bemerkenswerte an diesem frühen Roman von Frank Göhre ist die Atmosphäre, das Lebensgefühl dieser Zeit und seine Textur. In reportageartigen Versatzstücken und in ihrem eigenen Jargon stellen die Protagonisten (jeder bekommt seinen Raum) die typischen Fragen der Aldoleszenz: Was fange ich an mit diesem Leben? Was sind meine Fähigkeiten? Was kann ich bewegen in der Welt? Wer bin ich überhaupt, wenn ich ICH und nicht mehr ICH in der Familie bin? Wie viel Freiheit kann ich mir nehmen? Welchen Zwängen muss ich mich unterwerfen? Und wie krieg ich das alles auf die Kette?
Die Alten schlagen sich durch, noch sind sie hungrig nach Wohlstand und Konsum. Das Wachstum stagniert an der Ölkrise, die Arbeitslosigkeit steigt. Die ersten Gentrifizierungsmaßnahmen bedrohen das Viertel und das Leben der Menschen dort. Fred setzt die väterliche Tradition des Arbeiterprotestes fort und muss sich fragen lassen, wen er dafür opfern will. Jens geht zum Bund, weil der gelernte Koch kein Bein an die Erde kriegt, bei Antje nicht und auch sonst nicht, macht sich zum Außenseiter und Versorgungsbedürftigen. Jule wird eingesperrt von ihrem Alten, Bernadette von der Clique wegen ihrer bildungsbürgerlichen Herkunft abgelehnt … Aber man ist jung. Es gibt wilde Autofahrten durch die Nacht, Feten, Liebe, Trennung, die Roling Stones, die Kneipe und die Suche.
Was diesen Roman heute zu einem Lesevergnügen macht, ist, dass er sich durch seine unorthodoxe, popkulturelle Erzählform, die eine eigene Intensität erzeugt, auszeichnet, sind die genauen Beobachtungen und die realitätsverhafteten Charaktere. Ein Glück, dass Walter Gödde ihn neu herausgegeben hat. Sein Nachwort ordnet ihn in das Gesamtwerk Frank Göhres ein und lässt den Autor selbst zu Wort kommen.
So richtig gut geht der Roman nicht aus. Wie könnte auch? Das Leben der jungen Leute fängt ja gerade erst an. Aber er endet mit: „ … und sie gingen raus, gemeinsam, das war wichtig, jetzt und überhaupt.“
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Frank Göhre, Goldenen Meile, Kurzkrimi, eBook, hey!publishing Verlag, München, 2013, S.49, 1,99 Euro
Kommen Sie mit auf die Reeperbahn!
Einen Tag lang nur.
Sie begegnen Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung, können zusehen, wie sie tanzen, trinken, den Mädels an den Po fassen oder eben den verkaufen, oder wie sie ihre Deals abziehen. Kommen Sie, kommen Sie …
Hinter den glitzernden Pappmascheefasaden der Hamburger Amüsiermeile laufen Alltagsgeschäfte oder Konkurrenzkämpfe. Und es stirbt auch schon mal jemand. Der hippe DJ Urs aus der Schweiz wird in einer Baugrube gefunden. Alles sieht nach einem Unfall aus.
Pit Gottschalk und Jörg Fedder, Ermittler, die wir schon aus der ‚Kietz-Trilogie‘ kennen, stellen Fragen, wenn auch nicht begeistert, weil ihnen noch der Rest der Nacht, Ingrid und mieser Stoff die Hirne vernebelt. Und sie bekommen längst nicht alle beantwortet.
Die Intensität und Bildhaftigkeit, mit der Frank Göhre die Welt der kleinen und großen Ganoven, der Hineingeratenen, der Naiven, der Strippenzieher und Abhängigen, der Zahlenden und Bezahlten, der Hungrigen und Profitierenden, der Touristen und Anwohner, der ganz normalen Leute erzählt, setzt sich über sein gesamtes Werk hinweg fort. Auch in diesem Bändchen zeichnet er mit lässigem, aber genauem Strich ein Bild unserer Gesellschaft im Miniaturformat.
Also kommen Sie, kommen Sie!
Für eine kurze Weile mit auf die Reeperbahn und hinein in Frank Göhres Geschichte. Es lohnt sich!
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Frank Göhre, Hot Stuff, Eine Nacherzählung, Maxi, Culturbooks, Hamburg 2013, E-Book, S.85, 4,99 Euro
Sie haben etwas anderes erwartet? Damit liegen Sie völlig richtig. Erwartungen erfüllt dieser Text nicht. Aber vielleicht machen Sie sich die Mühe und treten einen Schritt zurück. Noch einen. Und noch einen.
Jetzt stehen Sie mit dem Rücken zur Wand?
Die beste Position, um den Text zu erkennen, denn man sieht ihn am deutlichsten mit Abstand, vergleichbar mit einem impressionistischen Gemälde (in Neon und Schwarz allerdings) oder einem Mosaik, in dem Verbrechen, Kunst, Lust, Resignation, Angst, Reichtum, Tod, Gier, Korruption, Liebe, Musik und Wetter gleichberechtigte, wenn auch nicht gleich große Steinchen im Gesamtbild sind.
Frank Göhre erzählt in diesem Text keine Geschichte, er erzählt viele (wie er dies auch in anderen Texten und in Romanen tut). Nämlich die der 1970er Jahre – kalter Krieg, Nachhippiekater, Drogenkartelle, Radikalisierung. Oder er lässt sie erzählen: Textstellen aus Romanen der Kriminalweltliteratur, aus Filmen, Features, Songtextschnipsel …
Wie in einem Kaleidoskop sieht man, wie die Welten dieser Zeit zusammen verstanden werden könnten, nicht unter einer Prämisse etwa oder überhaupt thematisiert, sondern, wie sie nebeneinander und ineinander verschränkt existieren, wobei Kriminalität und Gewalt in sie hineingehören wie jegliches andere kulturelle, soziologische, historische und irgendwie unspezifizierte Phänomen menschlichen Handelns. Dankenswerterweise befindet sich am Ende des Buches ein Quellennachweis, der für sich allein genommen schon spannend ist, weil er Anregungen zum Weiterlesen und Verstehen bietet, ebenso wie das Nachwort von Thomas Wörtche.
Okay, die 1970er sind nun auch schon was her, könnte man meinen. Da ist was dran.
Aber Sie stehen ja noch immer mit dem Rücken zur Wand. Wenn Sie erfahren, wo Sie herkommen, können Sie herausfinden, wo Sie hinkönnen … Wenn Sie wollen.
Das Buch könnte ein kleines Licht auf den Weg werfen.
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Geile Meile, Frank Göhre, Sammelband, Pendragon Bielefeld, 2013, S. 504, 14,99 Euro
Frank Göhre ist der Mann, der darüber schreibt, wie Kriminalität ins Leben von Unbescholtenen und Ahnungslosen hereinbricht oder vielmehr, wie sie in ihm wohnt, wie Menschen sich wandeln, angesichts von Gewalt und tatsächlicher oder vermeintlicher Ungerechtigkeit, wie ihre Vorurteile ihr Tun bestimmen. Taten, die sie nicht für möglich gehalten hätten. Wer glaubt schon, dass der nette ältere Herr von nebenan im Stande ist, einen Wehrlosen niederzuschlagen aufgrund falscher Beschuldigungen? Es sind nur die Umstände, die in der Erzählung „Rentner in Rot“ den freundlichen Herrn Brinkmann zu einem blinden, rachsüchtigen Mann machen. Seine Frau wurde ermordet.
In der Erzählung „Der letzte Freier“ stirbt die Prostituierte Tanja. Nein, sie steht nicht am Rande der Gesellschaft. Sie hat eine ganz normale Schwester, die mit einem ganz normalen Banker ganz normal verheiratet ist. Tanja nimmt sich vielleicht ein bisschen mehr von etwas, von dem sie glaubt, dass es ihr zustehe. Damit gerät alles aus den Fugen.
Der Sammelband beginnt mit „Zappas letzter Hit“. Zappa, Auftragskiller und letzter Akteur eines Rings organisierter Kriminalität, erschießt sich und seine Frau in der Zelle. Der Tochter hinterlässt er ein schweres Vermächtnis. Die junge Frau soll sich um einen Verräter aus den eigenen Reihen kümmern. Rache treibt sie an. Zunächst arbeitet sie bei dem dicken Gottschalk, ehemaliger Ermittler im Zappa-Fall, inzwischen Besitzer eines Nobelrestaurants, als Köchin, später wird sie seine Geliebte, nicht zuletzt deshalb, weil sie mehr über den Tod ihrer Eltern erfahren will. Aber nur, weil eine kriminelle Organisation zerschlagen wird, stirbt Kriminalität nicht gleich aus. Ein rechtspopulistischer Innensenator hat Verbindungen zum Partykönig Dennis, der die Hell’s Angels für seine Machenschaften einzuspannen versucht. Die fühlen sich betrogen und ziehen in einer Nacht mordend durch Hamburg. Es gibt viele Tote auf Seiten der neuen Herren der organisierten Kriminalität, Banden aus Albanien, Russland, Polen, mit denen keine Absprachen zu treffen sind. Die Karten werden neu gemischt …
„St. Pauli Nacht“ – es ist nur eine Nacht. Alles läuft auf einen Zufall hinaus. Menschen leben ihr Leben und kreuzen ihre Wege an einem Punkt in Raum und Zeit, der es dauerhaft und unumkehrbar verändert, weil der Tod hineintritt. Alles was sie tun hat Folgen, die wieder Folgen haben … Aber nichts ist schicksalhaft, es sind Entscheidungen, die jeden einzelnen dorthin führen. Und dort stirbt einer.
Der Autor erzählt schnörkellos in einem drängenden Rhythmus. Man muss achtsam lesen, um dem Tempo zu folgen und die schnellen Schnitte mitzukriegen. Atmosphäre wird knapp schraffiert. Sehr klar, ungeschönt. Es sind die einfachen Leute, die irgendwie in irgendetwas hineingeraten, die sich verstricken, weil sie Interessen haben, Leidenschaften, Not, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind, weil sie eben leben. Auf dem Kietz. Oder anderswo in der Welt. Und weil sich Machtstrukturen ändern. Das Großartige an Frank Göhres Romanen und Erzählungen ist, dass sie Menschen in ihren Milieus Stimme und Gesicht geben. Menschen, die sonst keiner sähe.
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Frank Göhre, Die Kietz-Trilogie, Pendragon Verlag, 2011, 16,95 Euro
Mit diesem Buch sollte man ausnahmsweise hinten beginnen. In „Hamburger Verhältnisse, Hintergründe und Materialien zur Kietz-Trilogie“ am Ende des letzten Teils liefert der Autor auf knapp dreißig Seiten einige Ergebnisse seiner Recherchetätigkeit – eine ausgesprochen spannende Lektüre. Im Übrigen ist es eine Zumutung über das Buch schreiben zu müssen, denn besonders nützlich scheinen Begeisterungsstürme wie – großartig! wunderbar! genial! – nicht. Aber ich will mich nicht beklagen nach der Freude beim Lesen und dem tiefen Eindruck, den es hinterlassen hat. Stattdessen fange ich mal vorne an:
„Der Schrei des Schmetterlings“ 1986
Die nackte Leiche einer Tänzerin wird in einer Hamburger Pension neben einem komatösen Herrn fortgeschrittenen Alters, drei Umschlägen mit einer Stange Geld und einem Abschiedsbrief gefunden. Augenscheinlich handelt es sich um einen Mord und einen Selbstmordversuch. Wenn dem so wäre, endete die Geschichte an dieser Stelle. Der abgeklärte Gottschalk, der verführbare Broszinski und der selbstunsichere Fedder ermitteln, weil denn doch nicht alles glatt zusammenpasst und der tote Vertraute der Ermordeten neue Fragen aufwirft …
Höchst erfreulich für mich als Leserin, denn Frank Göhre hat eine rasante, klar durch erzählte Geschichte entstehen lassen, Atmosphäre sparsam und sicher schraffiert, mit temporeichen Dialogen, der absoluten Stärke dieses Buches. Die Geschichte selbst, eine von Prostitution, von kleinen und großen Dreckskerlen, von Leuten, die irgendwie durchkommen wollen und der zunehmenden Härte organisierter Kriminalität, entwickelt sich vornehmlich entlang der Gespräche ihrer Protagonisten. Und die sind vielschichtig und glaubwürdig, trotz oder wegen ihrer gebrochenen Lebensläufe. „Der Schrei des Schmetterlings“ ist ein richtiger Kriminalroman, der die Welt nicht in Gut und Böse einteilt, sondern von ihren Versuchungen, Täuschungen, Verstrickungen und Abscheulichkeiten erzählt. Die wenigen zarten Töne verblüffen zwischen den eisigen Realitäten und setzen spannende Kontraste.
Nicht alle erzählten Geschichten finden zu einem Ende. Gut so, denn ich hoffe auf sie in …
„Der Tod des Samurai“ 1989
Der „Samurai“, bürgerlich Franz Auer, wird in einem Lokal auf St. Pauli vom Stuhl geschossen. Schockiert und tatenlos muss ein Handlanger der Kietzgröße „Emma“ Stobbe, dem Profikiller und seiner Flucht zusehen. Die Ordnung auf dem Kietz gerät ins Wanken. Unabhängig davon ereignen sich zwei brutale Morde – die Leichen werden schwer verstümmelt aufgefunden – die nur durch die Journalistin Jutta Wolf miteinander verknüpft scheinen. Dem ersten Leichenfund folgt eine ganz und gar großartige Szene, in der ihr Schmerz, ihre Verzweiflung, ihre Kaltblütigkeit (oder was sie dafür hält?) und ihre Verzweiflung über diese Fühllosigkeit so plastisch werden, dass ich einen Moment innehalten muss zwischen den kurzen, schnellen Sätze, Wortfetzen, Sprüngen, ohne dass ich zu irgendeinem Zeitpunkt die Orientierung verliere, gleichgültig auf welcher Ebene erzählt wird.
Der unzufriedene, fleißige Fedder ermittelt einen Zusammenhang zwischen den Leichen und Jutta Wolf. In folgendem kleinen Abschnitt befinde ich mich mitten in jene Nacht:
„Gestern, im Dunkeln. Von ihrer Wohnung aus bis zum Pfad am Ufer. Gefolgt von dem Mörder …
Er schaute zum Haus hoch.
Die Haustür war offen. …
Er hörte, dass sie da war …“
Nun bin ich nicht mehr sicher, aus welchen Augen ich schaue. Aus Fedders? Oder …? Sicher bin ich nie. Ich könnte noch viele solcher Textstellen, in ihrer Mehrdeutigkeit glitzernde Dingerchen, raus sammeln …
Einen darf ich noch:
Es geht um Prostitution. Unter anderem. Werner „Emma“ Stobbes Job sein halbes, mehr oder weniger kriminelles Leben lang. Angeklagt wurde er, nie ernsthaft belangt und der Verdacht liegt nahe, dass irgendwer in der Polizei … Aber das ist nicht sein Problem. Es gibt andere. Probleme und Konkurrenten.
Wie die LUNA zum Beispiel, deren Mitglieder hier unterwegs sind:
„… Uli steuerte den Wagen durch die schmalen Straßen. Die Mädchen und Frauen standen bibbernd in den Hauseingängen. Es goss in Strömen. Nur wenige Freier waren noch unterwegs. Norbert stellte die Heizung höher.“
Wenn hier die Machtverhältnisse nicht klar werden! Unklar bleiben sie zunächst den Ermittlern, die selbst verwickelt sind in alte Abhängigkeiten, Beinahe-Verbindlichkeiten und Fast-Denunziationen. Vor ein bisschen Koks und Dope machen sie sich nicht bange. Aber Mitch, den seine Ermittlungen im eigenen Haus den Job und die Ehre gekostet haben, der säuft, der kein Blatt vor den Mund nimmt, dafür aber hinter sich schaut, immer, bringt ein paar Ex-Kollegen gehörig ins Schwitzen.
Der Kampf um Menschen und Drogen wird unübersichtlicher. Hatten sich die „Guten“ wie die „Bösen“ vor Jahren noch eingerichtet miteinander, werden Mitte der Achtziger die Claims neu abgesteckt, zum Erschrecken der Beteiligten mit einer bisher nicht gekannten Brutalität.
Ach, einen muss ich doch noch!
Es gibt klitzekleine Komischkeiten wie diese: Stobbe, der Oberlude und Kunstliebhaber, der Fontane liest und das immerwährende „weite Feld“ bei einem miesen Boxkampf zitiert – das ist wirklich zum Kichern. Stobbe ist ein ganz harter Typ, denn er tut sich auch noch Proust an.
Jetzt höre ich aber auf„Der Tanz des Skorpions“, denn der Schluss ist beeindruckend, wie das gesamte Buch. Selbst lesen! Genau wie …
„Der Tanz des Skorpions“ 1991
„Zappa“ hat sie alle umgelegt, den Samurai, den Stone, Stobbe und fast die ganze LUNA-Bande. Sieben Morde will er begangen haben, steht jedenfalls in der Zeitung. Aber man weiß ja, wie das mit Zeitungsmeldungen ist. „Zappa“, das ist Karl Weber aus Bochum, trägt die Tätowierung eines Skorpions auf dem Arm und ist der bürgerliche Profikiller mit Familienanschluss von nebenan. Er hat aber noch mehr im Ärmel, behauptet er. Aussagen gegen die Nummer Eins im Kartell mit den einträglichen Geschäften: Prostitution, Drogen, Glücksspiel.
Nun könnte man als Leser denken, was habe ich mit dem organisierten Verbrechen zu tun? Stimmt, nix. Jedenfalls nicht unmittelbar. Es sei denn eines der Kinder verlässt das eigene, hypothekenschwere Reihenhäuschen, um sich die Birne mit Drogen zuzuknallen wie Sabine. Die junge Frau und ihre Mutter werden von zwei Unbekannten vor den Augen des gefesselten Weigel gefoltert und ermordet.
Fedder, der endlich eine Freundin hat und eine Verehrerin, die ihm das Leben schwer macht, kommt mit seinen Ermittlungen nicht voran und fühlt sich dennoch merkwürdig verpflichtet, sie weiter zu führen.
Gottschalk wird verlassen und begibt sich in eine Beziehung zu einer sehr jungen Frau.
Broszinskis Geliebte verschwindet auf unerklärliche und besorgniserregende Weise.
Meisterlich die Selbstverständlichkeit, mit der die Konflikte der Protagonisten abgebildet werden! Und zum Heulen in ihrer Intensität und Präsenz!
Hintergründe und Zeitgeschehen – der Auftritt der Beatles in Hamburg, der seriöse Bau des „Eros-Center“ mit nicht ganz so seriösem Geld, Erinnerungen an die wilden Endsechziger, Splitter aus dem Leben von Stobbe und seinen Mannen – werden als Interviews, Zeitungsartikel oder Filmausschnitte verpackt: schnell, konkret und ohne viel Herumgerede. Man muss dran bleiben beim Lesen und gewillt sein, zu folgen, ohne zu wissen, wohin die Reise gehen könnte – ein riskantes Unternehmen und so gar keine Krimiabendgemütlichkeit. Es ist der überhaupt nicht normale Wahnsinn, der in diesem Buch vorkommt, allerdings mit ganz normalen Leuten, ihren Bedürfnissen und Unfähigkeiten, ihrer Rigorosität, ihrer Angst, ihren Leidenschaften und Obsessionen. Und es geht längst nicht alles gut aus … Ganz normal halt.
Also was jetzt? Nichts weiter.
Lesen! Dringend!
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Frank Göhre, Abwärts, Roman, Pendragon, S. 200, 9,90 Euro
Der Film ist ein Klassiker, der Roman zum Film auch. In Gedenken an den früh verstorbenen Regisseur Carl Schenkel fügt der Autor die Entstehungsgeschichte von der Idee bis zur Premiere an, was ebenso spannend wie der Roman selbst ist.
Die Geschichte kennt eigentlich jeder, der in den letzten Jahrzehnten schon gelebt hat. Vier Menschen – drei Männer, eine Frau – stecken am späten Abend im Fahrstuhl eines Bürohochhauses fest, vier sehr unterschiedliche Menschen. Panik, Wut, Resignation, Ignoranz wechseln zwischen den vieren, während sie Stunde um Stunde ausharren, auf Rettung warten, nach Lösungen suchen, sich kennenlernen und heftig aneinander geraten. Jörg und Marion sind Konkurrenten in ihrer Firma, hatten eine kurze Affäre miteinander. Gössmann, der angepasste und gedemütigte Buchhalter (Mobbing war 1984 noch kein Modewort), will endlich seinen Anteil vom Kuchen.
Der junge Pit, der nach der Auffassung der Älteren der Null-Bock-Generation angehört, ist längst nicht so ambitionslos, wie er sich gibt. Sie alle sind Vertreter von sozialen Gruppen des bundesdeutschen Alltags der 1980er Jahre – satt, unersättlich, wertereduziert und mehr oder weniger desillusioniert, wie er sich in jener Zeit gestaltet. Man hat sich bequem eingerichtet im Kalten Krieg mit seinen Grenzen und Perspektivlosigkeiten. Und doch überschattet die Schuld Karrierepläne, Ordnungszwang und Reihenhausgemütlichkeit. Schuld, die im Roman vor allem die Männer zu tragen scheinen. Der ausgebrannte Jörg in seiner Ignoranz jeglicher Verantwortung gegenüber. Gössmann in seiner preußischen Obrigkeitshörigkeit. Der Pförtner, der formal und den Vorschriften folgend seinen Job absitzt, während vier Menschen im Fahrstuhl in Not geraten, weil die Seile zu reißen drohen. Unter anderen sozialen Bedingungen hatten solche Haltungen in eine Katastrophe gemündet. Aber davon wollte man auch Jahrzehnte später nicht viel wissen.
Interessanterweise stellt sich den Frauenfiguren die Schuldfrage nicht. Zwar folgen sie ihren Interessen, die aber richten sich vor allem an bzw. gegen die Männer. Marion will (und bekommt) die Stellung von Jörg. Tina, eine Edelhure, will ihr Geld, und möglichst viel davon, von dem betrügerischen Chef Gössmanns. Eine Ahnung der Rollenkonflikte, die sich heute zuspitzen, zeichnet sich ab.
So reduziert sich die Story in Ort und Personal gestaltet, so fokussiert wirft sie Schlaglichter auf eine Gesellschaft, die ihre Geschichte verleugnet und ihre Zukunft verhökert. Dem Autor gelingt dies, in einem atemlosen, rasanten Tempo zu erzählen. Hochspannung!
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Frank Göhre, I and I: Stories und Reportagen, Pendragon, S. 200, 10,95 Euro
Er nimmt mich nicht mit, denke ich, (zu dem Zeitpunkt denke ich noch) und stocke anfangs beim Lesen.
Ein Buch bei dem ich nicht weiß, was ich trinken soll. Zuerst entscheide ich mich für Kaffee. Bei jedem Absatz einen. Das geht zweimal gut, dann Espresso, bis mein Herzschlag sich dem Rhythmus der Sprache anpasst. Aber in Wirklichkeit geht es nicht ohne Wodka. Der bringt mich vom Denken ab und der Text zieht mich hinein in die Welten von Schriftstellern und Musikern, Gestrandeten und Gestrauchelten, Suchenden und Irrenden, Liebenden und Lieblosen. In die Welt derjenigen, die Chancen ergriffen, die sie nicht hatten.
Ich lasse mich treiben …Hamburg, Jamaika, Amsterdam. Eindrücke, Gespräche, Songtexte, Biographisches. Kunst und Leben auf unentwirrbare Weise miteinander verquickt. Hätte nie gedacht, dass das geht. Cool!
Reiseberichte, Reportagen, Aufsätze. Jean-Pierre Melville, Ernest Tidyman, James Crumley, Daniel Woodrell und David Osborn kommen vor und zahllose Unbekannte, die vor dem Vergessen behütet werden müssen. Es ist völlig egal, wie gut oder ob man die mehr oder minder prominenten Künstler zuvor kannte. Deshalb wird ja von ihnen erzählt.
Frank Göhre erzählt immer von jenen, die zu kurz gekommen sind, die sich haben durchschlagen müssen. Von den Unsteten, Risikobereiten, den Hassadeuren und Geschlagenen. Er ist ihr Chronist.
Wunderbar fügen sich die Episoden aneinander, nicht folgerichtig, sondern unbewertet, respektvoll und frei von jeglicher Hierarchie. Ich darf sie begleiten und mich anrühren lassen von ihrer Dynamik und ihrer Intensität. Geschichten gegen das Vergessen und für die Würde des Einzelnen mit raschen Beats, schnellen Schnitten und einem glasklaren und liebevollen Blick auf die Welt.
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Frank Göhre, Mo. Der Lebensroman des Friedrich Glauser, Roman, Unionsverlag, 2009, S. 189, 9,90 Euro
Friedrich Glauser (1896-1938) gilt vielen als der „Vater“ des Kriminalromans im deutschsprachigen Raum. Welche Rolle er auch immer in der Literatur gespielt haben mag, seine im Roman verarbeitete Biographie ist in jedem Falle ein großartiges Stück Literatur. Ganz nah bleibt der Autor an der Person, einfühlsam und atmosphärisch erzählt er von der Zeit, den Lebensumständen und den Versuchungen, mit denen sich Glauser herumschlug und denen er nur mühsam, wenn überhaupt widerstand.
Glauser war ein Süchtiger und ein Suchender. Und nein, das Eine schließt das Andere durchaus nicht ein, weder inhaltlich noch etymologisch. Seine Morphinabhängigkeit begann anlässlich einer Erkrankung (er hatte eine Lungenentzündung und bekam eine Injektion von seinem Arzt). Das „Mo“, wie er das Morphin nannte, war beides – Rettung und Tod. Ganz sicher muss er während der ersten Applikation ein so umfassendes, mit nichts anderem vergleichbares Behagen empfunden haben, dass die Droge einen Fluchtpunkt in seinem schwierigen Leben bieten konnte.
Frank Göhre gelingt es, ein differenziertes, persönliches Bild von Friedrich Glauser mit seinen Ängsten, Widersprüchen und Abhängigkeiten zu zeichnen, ein Bild von einem Kämpfer und Träumer, der mit inneren Dämonen und äußeren Zwängen ringt und im literarischen Schaffen Halt wie Qual erlebt. Stilistisch unterscheidet sich der Roman von vielen anderen des Autors. Hier erlaubt er sich mehr atmosphärisch Erzählerisches, ist nicht so schnell, manchmal schroff, wie man ihn aus „Zappas letzter Fall“ oder „Der Auserwählte“ kennt. Dabei bleibt er lakonisch und sicher bis zum letzten Punkt.