Jerome Charyn, Unter dem Auge Gottes, Kriminalroman, Diaphanes Zürich-Berlin, 2013; Aus der Reihe: Penser Pulp, Hrsg. Thomas Wörtche, S. 288, 16,95 Euro
Nun ist schon so viel zu dem Roman geschrieben worden – begeistert Überschäumendes, spritzig Glitzerndes und Superkluges, recht passend, dass man sich gar nicht traut …
Aber: Seien Sie mutig, lassen Sie sich nicht abschrecken, trauen Sie sich!
Denn man kann diesen Roman lesen, wie man will. Von allen Seiten quasi. Aus allen möglichen Perspektiven. Auf allen Ebenen.
Nimmt man zum Beispiel die höckerige Oberfläche: Isaak Sidel, ein Cop aus der Bronx wird Bürgermeister von New York, Vizepräsident der Vereinigten Staaten, heimlicher und eigentlicher Präsident? Hä? Okay, der Roman spielt in New York Ende der 1980er. Da is alles drin.
Sidel trägt Second-Hand-Militärmäntel und seine Glock, die er auch benutzt, also gegen das Böse und so. Er liebt Walnusskekse. Er kann gar nicht ohne sie. Er liebt überhaupt. Also ganz generell. (Seine Bronx. Inez, die Richtige und die Falsche, die aber auch eine Richtige ist. Das legendäre Ansonia-Hotel in Manhattan, in dem sie wohnt. David Pearl, den kleinen, ewig jungen Oberganoven, Banker, Landnehmer, Solipisten, den David im Goliath, den Lehrer, Bewahrer und … das führt zu weit.) Obwohl er schon so alt ist. Die zwölfjährige Marianna, Tochter des Präsidenten zum Beispiel, die Firstlady, die die Walnusskekse bäckt und auch sonst mit den wundervollsten weiblichen Attributen glänzt.
Ups, da wären wir jetzt eine Ebene drunter. Kinder sind keiner Kinder, weder Marianna noch David Pearl, der als 9jähriger den Gangsterboss Arnold Rothstein beriet. Zumindest spielen sie keine kindlichen Rollen. Vielmehr werden sie verstanden, wie man sie bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts verstanden hat, als Miniaturerwachsene. Zwar werden sie ernst genommen, aber auch verkannt, erhöht und paternalisiert. Sidel will man eine Lolita-Affäre anhängen, um ihn und damit den Präsidenten zu diskreditieren. Tatsächlich beschützt er das Mädchen. Irgendwie. Und er liebt sie. Missbrauch steht im Raum, deutlich. Den gibt es aber nicht, eigentlich. Uneigentlich aber eben doch, im Sinne der Paternalisierung.
Marianna jedenfalls wird erst einmal weggeschafft. Keine Walnusskekse mehr.
Auch der jugendliche Sidel kommt vor: Neugierig, wagemutig und rebellisch, wie es sich gehört. Sein Vater war Handschuhfabrikant. Für so Leute, die dringend Handschuhe aus feinstem Leder brauchen, damit sie sich die Finger nicht dreckig machen.
Jedes verdammte Detail ist eine Metapher. Oder auch nicht. Je nachdem, wie man den Roman liest. In jungen Jahren lernt Isaak David Pearl kennen und ist fasziniert von seinen Geschichten und von seiner Chuzpe. In späteren Jahren ist Sidel Pearl in fröhlicher Ambivalenz zugetan und in verhasster Verbundenheit. Pearl ist eigentlich der Superkriminelle, den er bekämpfen müsste, was er auch tut, irgendwie. Und von dem er abhängig ist, auch wenn er behauptet, nicht gewusst zu haben, dass der ihn protegierte.
Tausendundeine Facette, Ebene, Perspektive von diesem Roman könnte man beleuchten.
Vielleicht ist das sein Wesen: Es gibt alles und alles auch nicht oder vielleicht oder ein bisschen. Oder es würde es geben können.
Nur eines ist sicher: Du gehörst dem, auf dessen Land du stehst.
Und nu gucken Sie mal unter Ihre Füße.