Gary Dexter, Der Marodeur von Oxford, Roman aus der Reihe „Penser Pulp“, Hg. Thomas Wörtche, Übersetzerin: Zoë Beck, Diaphanes Verlag Zürich-Berlin, 2013, S.304, 16,95 Euro
Zuallererst muss man von dem Spaß erzählen, den dieses Buch gemacht hat. Man kann auf dem Sofa liegen, sich in die viktorianische Zeit (1893) hineinlesen – fröhlich, ein wenig langweilig im besten Sinne, weil der Ductus so vertraut ist wie das eigne Sofakissen, entspannt – und bei jeder Passage vor sich hin kichern.
Da ist Olive Salter, die psychosomatisch belastete Schriftstellerin, die über ihren ersten, zunächst erfolglosen Roman Bekanntschaft mit dem schmuddeligen Dr. Henry St. Liver macht. Der Sexualwissenschaftler klärt „Fälle“ auf. Nix wirklich Schlimmes, eher etwas, das Menschen in verhältnismäßig übersichtliche Schwierigkeiten gebracht hat. (Der Umstand, dass sich ein Lord anlässlich seiner Hochzeit in der Kirche entblößt, ist zwar für niemanden ein wünschenswertes Geschehen, aber eben auch nicht unmittelbar lebensgefährlich.) Olive Salter wird Dr. Watson, während St. Liver in Sherlock Holmes Manier Rätsel löst. Nur die Schlüsse unterscheiden von denen seiner Vorlage erheblich.
Er arbeitet, sagen wir, eher therapeutisch. Will heißen: Es gibt einen Konflikt, die persönliche sexuelle Präferenz vs. die gesellschaftliche Norm (die auch verinnerlicht ist, sonst wäre es ja nur ein äußerer Konflikt). Eine Situation erfordert die Hilfe von St Livers und führt dazu, sich zu offenbaren, was Entlastung beschert und die Scham mindert. St. Livers macht einen behavioristischen Lösungsvorschlag, der begeistert angenommen wird. Fertig. Ein Setting, was allein schon lustig genug ist, aber wunderbar an die Sherlock-Holmes-Geschichten anschließt, nur mit umgekehrtem Ergebnis. Niemand geht ins Gefängnis. Vielmehr lernt der „Außenseiter“, mit seinem Sosein lustvoll zu leben. Spannend, dass es in den Geschichten häufig um Scham geht, einem heute kaum beachteten Gefühl, dass man in der Persönlichkeitsentwicklung zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat ansiedeln muss und das in weniger individualisierten Gesellschaften als der unseren eine bedeutendere Rolle spielt. Man kann davon ausgehen, dass das im Ausgang des 19. Jahrhunderts in Europa auch so war, wenn man mal die Erzählzeit ernst nimmt. Zumindest war es sozial akzeptabel, schamhaft zu sein. Naja, St. Liver erlöst die Beschämten so oder so.
Heikler wird es beim Ekel. Sexuelle Befriedigung aus der Beobachtung der Defäkation zu ziehen, ist gewiss speziell und würde manchem Leser Tapferkeit abverlangen, wäre die Szene nicht so burlesk und brüllend komisch.
Hübsch auch lateinische und latiniforme Begriffe, die im allgemeinen Sprachgebrauch nicht vorkommen. Iatronudie zum Beispiel: extrem selten gelesen, während das Phänomen vergleichsweise häufig anzutreffen ist.
Bei allem Spaß hantiert der Autor mit einem fundierten Wissen um psychodynamische Prozesse, was sehr erfreulich ist im Gegensatz zu jener Ahnungslosigkeit, die sich vielen sogenannten Psychothrillern findet.
Die unglaublichen vielen Anspielungen auf Bücher, Persönlichkeiten und deren Verbindungen lassen sich in dem klugen, aufschlussreichen und ebenso amüsanten Nachwort von Thomas Wörtche nachlesen.
Sollte man Oskar Wilde, Conan Doyle, Eleonore Marx, Iwan Bloch, Magnus Hirschfeld und, und, und … nicht kennen, macht das überhaupt nichts. Wer Sinn fürs Komische hat, wird eine großartige Zeit mit diesem Buch verbringen.