Der Condor ist verrückt.
Wer das sagt? Der Condor alias Vin, Ronald Malcolm mit bürgerlichem Namen, selbst, der Klappentext, sein Autor (Sonja Hartl, Kulturjournalistin, führte ein Interview mit James Grady.) und Die Welt.
Gegen PTBS, paranoide Psychose, Angstzustände, Depression und noch ein paar nicht klassifizierte Diagnosen ist der Condor so sicher mediziert, dass er im Keller der Library of Congress, Washington D.C., Bücher in zu bewahrende und zu entsorgende trennen darf. Wer den Condor kennt, weiß, dass er 1974 als Agentenfrischling in Romanen nach geheimdiensttauglichem Material forschte.
Inzwischen ist er alt, desillusioniert und physisch wie psychisch angeschlagen. Mit der Selektion von Büchern richtet man nicht viel Schaden an, meint die Homeland Security, die ihm den sicheren Job verpasste.
Sicherheit ist in Condors Interesse, denn allein sein Arbeitsweg ist ein Kraftakt an Aufmerksamkeit und Kontrolle. Ein weißer Wagen folgt ihm. Oder nicht? Flash backs und Erinnerungssplitter zerhacken die Kontinuität seiner Gedanken, seiner Zeit. Mühsam muss er sich ins Jetzt zurück zerren. Der Alltag wird zum Labyrinth, wenn man sich seiner selbst nicht sicher ist. Doch wer ist das schon? Die Geheimdienste, die vor sich hin spionieren, alles und jeden unter vorsichtshalber-Verdacht stellend, ohne Ziel, ohne Verantwortung, nur im sich selbst bestätigenden Modus, scheinen es jedenfalls nicht zu sein. Für ihre Agenten, wie Faye und ihren Partner, die Condor regelmäßig einer demütigenden Kontrolle unterziehen, wäre Paranoia eine Qualifikation. Fayes Partner verfügte offenbar nur begrenzt über diese Ressource: Er wurde in Condors Wohnung gekreuzigt. Um dem Verrückten eine verrückte Tat anzuhängen? Condor flieht. Faye hetzt mit ihm durch die Stadt, schießt in der U-Bahn, immer noch auf ein schützendes System, auf rettende Normalität vertrauend, die es längst nicht mehr gibt. Keiner weiß, wem und ob zu trauen ist. Niemand. Nur noch Daten und Bilder von. Hauptsache weiter. Durch die Straßen. Irgendwo. Damit ich nicht erschossen bin, bevor.
Grady lässt die Sprache in assoziative Sequenzen zerfallen, wie die Welt und ich in wir und jetzt. Laufen. Nicht stehen bleiben. Weiter. Erfreulicherweise nicht in dissoziative Partikel oder formale DenkSprachstör …, sodass man gedanklich oszillierend folgen kann. Eine irre Herausforderung für die Übersetzung, die Zoë Beck meisterhaft gelungen ist.
Mit der Auflösung der Sprache, der Überflutung mit Reizen und Daten, dem Versagen sinnvoller Kommunikation, dem Verwischen interpersoneller Grenzen, dargestellt durch abrupte Perspektivwechsel, steigert sich das Tempo isolierten Handelns und das Ausmaß der Gewalt, bis schließlich nur der Einzelne als fragliches Subjekt übrig bleibt, herausgefallen aus existenziellen Kontexten, nur mit der fragilen Illusion einer übergeordneten, sinn- und haltstiftenden Instanz im ramponierten Kopf.
Also wenn in diesem großartigen, dynamischen, brillanten Roman von James Grady tatsächlich einer verrückt ist, dann ist es das System in seiner rasenden Entmenschlichung. Und aus Systemen kann bekanntlich niemand hinaus(denken), auch die Leserin nicht.
James Grady, Die letzten Tage des Condor, Thriller, Suhrkamp Berlin, 2016, Aus dem Amerikanischen: Zoë Beck, 367 Seiten, 14,99 Euro