Glauben Sie an Gemüse? – „Allesfresser“ von Christine Lehmann

1211x (1)Ist der Mensch satt, warm und sicher, braucht er keine Religion, oder? Den Kirchen laufen die Frommen weg, seit man die Natur urban eingehegt glaubt. Der Kommunismus verstarb an Illusion. Und heilversprechende Glaubenssätze haben Halbwertszeiten von Twitterbotschaften, um durch hippere ersetzt zu werden …

Für Entenbrüstchen in Kirschsauce benötigt Staatsanwalt Weber keine Ideologie, nur Salz aus der Mühle und Lisa Nerz am Küchentisch, die ihm die Beiträge eines veganen Blogs vorliest, während Öl in der Pfanne zischt. Ein Fernsehkoch ist seit Tagen verschwunden und die Staatsanwaltschaft sorgt sich, zumal ein auf ein Salatblatt gekritzelter Notruf per Flaschenpost einging. Der Blog ist krass. Es werden beliebige Statements zu „Wahrheiten“ erhoben, zweifelhafte Quellen berufen, fundamentalistische Antworten auf fundamentale Fragen generiert. Die anonyme Bloggerin ersetzt Tier durch Mensch und lässt ein Menschenschlachthaus erstehen, um das Leid der Kreatur, die wir auf unsere Teller schnitzeln, zu veranschaulichen. Doch vom Küchentisch aus ist nichts über die Urheberin aus der Veganerszene zu erfahren, also begibt sich Lisa mitten hinein, nicht ohne ihre Lederjacke abzulegen und in Stoffsneakers zu schlüpfen. Ein bisschen freakig sind die Leute auf dem Gnadenhof und in dem Veggie-Laden. Unglücklich ist die abgemagerte Violette da am Rand zum Erwachsensein, wie man eben unglücklich ist, während man nach dem Weg ins Leben sucht. Aber ist eine von ihnen auch eine Mörderin? Der Fernsehkoch wird nämlich zerteilt und vakuumiert in einem Stollen entdeckt, zumindest Teile von ihm, der Rest ist bereits im Handel. Eine grausige Tat mit berühmten historischen Vorbildern.

Download (1)Christine Lehmann vergleicht Torturen, die an Menschen und die an Tieren begangen werden, lässt unsere Position auf diesem Planeten erörtern, fragt nach Hierarchien, Bedürfnissen und Gerechtigkeit. Die unglückliche Violette hat auf alles eine basisorientierte Antwort: Kein Leid den Tieren, nie! Deswegen traut sie sich nicht über den Hof (Insekten könnten unter ihren Füßen den Tod finden) und nährt sich von Lichtenergie. Konsequent ist sie.

Die Autorin entrollt den Wahnsinn des Absoluten anhand von Essen und endet erwartungsgemäß im absurd Tödlichen, exakt recherchierte und detailreich gestaltete Ausflüge in andere Extremismen inbegriffen. Lisa Nerz ist weit davon entfernt, zu erklären, wie man leben soll, denn einen Plan hat sie selbst nicht, außer dem, dass schon alles okay ist, was okay ist, kompromisshaft, aber nicht im Sinne von schuldig. Für Schuld sind die diversen Ismen zuständig. Auf vertraut schnoddrig-sarkastische Weise ermittelt sich die Journalistin durch Erbsensuppe (sin carne, versteht sich), letzte Werte, versteckte Aggressionen und unverhohlene Gewalt, zur Freude der Leserin zuweilen moralisch fragwürdig. Für Christine Lehmann ist es nicht nötig, Krieg, Terror und Geheimdienstmachenschaften zu bemühen, um den Irrwitz des Daseins in Szene zu setzen. Sie erledigt das spitzzüngig und durchaus fundamentalistisch im Zuendedenken mit Tofu und Baumwolle – im Schwäbischen und global.

Christine Lehmann, Allesfresser, Kriminalroman, Argument/Ariadne Verlag Hamburg, 2016, 256 Seiten, 12,- Euro, eBook: CulturBooks Verlag Hamburg, 8,99 Euro

 

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