Du willst dich in meinem Spiegel sehen? Wozu?

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In der letzten CULTurMAG-Ausgabe kann man in einem Essay von Hanna Hesse über social reading und die Veränderung der Literatur durch neue technische Möglichkeiten lesen, wie Rezipienten am Entstehungsprozess von Literatur teilhaben und auf das Ergebnis einwirken, nicht zuletzt mit dem Wunsch nach Identifikation. Gerade das identifikatorische Potential einer Figur scheint ein Hauptkriterium zu sein, nach dem Leser*innen einen Roman beurteilen. Dabei ist es offenbar bedeutsam, dass die Figur „sympathisch rüber kommt“, dass sie in vergleichbaren Situationen, wie sie im Leserleben erlebt werden, ähnliche Reaktionen wie man selbst zeigt, dass sie Dinge tut, die man selbst für folgerichtig hält …
Ich habe genau diesen Wunsch schon oft gelesen und mich jedes Mal über ihn gewundert, weil er mir so fremd erscheint, dass ich mich nicht mit ihm identifiziere kann. Interessant finde ich vielmehr, wo dieser Wunsch seine Wurzel haben könnte. Prinzipiell ist es nachvollziehbar, dass sich jemand im Gegenüber gespiegelt sehen möchte, verstanden damit und anerkannt. Ein menschliches Bedürfnis zur Sicherung des sozialen Systems ist das, okay. Aber muss das unbedingt in ausuferndem Maße durch Literatur realisiert werden? Geht das nicht in echt? Oder spricht das Ausmaß dieses Wunsches an die Literatur dafür, dass er in der Wirklichkeit keine Erfüllung findet?
Ich weiß es nicht. Ich habe ihn ja nicht, nie gehabt, soweit ich mich erinnere.

Es war an einem Regentag im Sommer. Wir saßen auf dem Dachboden, Frank und ich. Frank war mein Freund, irgendwie. Die Matratze roch nach Heu und Staub. Ich war zwölf, als ich in seine knatschblauen Augen guckte und dachte:
Ich will die Welt aus deinen Augen sehen.
Kaum war der Gedanken gedacht, wusste ich, dass er mich begleiten würde. Manchmal gibt es so Momente im Leben. Luzide Lücken in der Zeit. Jedenfalls hat er das getan, der Gedanke, mich begleitet, bis jetzt.

Nun hab ich blöderweise nur meine eigenen Augen, aus denen ich gucken kann, was ich damals mit zwölf schmerzlich erkennen musste. Super, dass es die Literatur gibt! Eine Was-wäre-wenn-Spielwiese zum Toben und Imaginieren, zum Puzzeln und Basteln. Da liegen jede Menge biographischer Kleider, die anprobiert werden wollen, Massen von Perspektiven und ihre Verstecke, aus denen geschaut werden kann, stapelweise Rollen- und Zerrbilder …
Natürlich benötigt all das ein Teil-Ich, das sich identifiziert, um eine Figur lebendig zu entwickeln. Das völlig Fremde wäre ja nicht denkbar. Aber was ist fremd? Selbst Wahnhaftes ist in seinem System oft plausibel (nicht immer, oder nicht immer erfassbar). Alles, was sich im Normalpsychologischen oder im Normalneurotischen abspielt, kann gedacht und genutzt werden.
Sicher ist es dann nötig, aufrichtig mit sich zu sein, sowohl auf der Produktionsebene wie auf der Rezipientenebene, denn manchmal kommen Figuren zustande, die etwas „spiegeln“, das man gar nicht so gern gespiegelt haben möchte. Das nicht sympathisch, nicht absehbar, nicht durch die eigene Erfahrungswelt plausiblisiert ist.
Für mich ist genau das das Spannende an Literatur, sowohl als Schreiberin, als auch als Leserin:

Ich kann (kurz, unvollständig, eingefärbt) die Welt aus deinen Augen sehen.

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