Von irgendwo eine Rumba, draußen die schwarze Nacht reich besternt. Und drinnen der Fremde, der Albrecht heißt. Mir ist ein bisschen leicht vom Rum, vom Leben und Weiterleben. Ich will nicht mehr wissen, wie Blas und Dario unsere Dokumente erschwindelt haben, was ihnen zugestoßen ist dabei. Ich lege mich auf die Matratze und schaue an die Decke. Mir schwindelt ein wenig.
„Wir werden die Nacht hier verbringen“, sagt Alfred, der am Fenster steht und auf La Habana schaut.
„Ja.“ Mir ist nach einer Dusche. Okay, es gibt keine. Also raff ich mich auf, entkleide mich (Alfred steht am Fenster. Es ist Nacht. Ich habe gerade erlebt, wie zwei Todgeweihte lebendig wurden.) Ich wasche mich am Waschbecken mit einem Stück Seife, dessen Geruch mich an Kernseife erinnert – sauber, brav, preußisch – und schlüpfe unter die Decke.
„Macht es dir etwas aus, wenn ich mich zu dir lege?“ Albrecht steht immer noch mit dem Rücken zu mir am Fenster, ein Mann mit Manieren, und müde wird er sein.
„Komm schon. Wir sind beide schon über zwölf.“ Manieren kann man sich leisten, wenn man sonst alles hat. Einen Moment scheint er zu überlegen, öffnet das Fenster, angenehm kühle Nachtluft strömt herein. Dann sehe ich von hinten, wie er sein Hemd aufknöpft, es ablegt, das Shirt über den Kopf zieht. Sein Rücken ist gerade und glatt, erstaunlich glatt für einen Mann seines Alters. Mit einem leicht verschämten Blick auf mich geht er zum Waschbecken. Ich drehe mich um, höre das Wasser plätschern, Stoff rascheln, seine Schritte barfüßig auf den Dielen. Die Glühbirne an der Decke erlischt. Ich höre, wie ein Streichholz angerissen wird, flackerndes Licht. Albrecht stellt eine Untertasse mit einem Kerzenstummel auf den Boden. Nach all den Verrichtungen, er hat auch seine Kleider sorgfältig zusammengefaltet, legt er sich zu mir. Die Matratze ist nicht sehr breit und er ist ein massiger Mensch, kaum zu vermeiden, dass sich unsere Körper berühren. Seine Haut an meinem Rücken. Ein seltsam verschollenes Gefühl, die warme Haut eines anderen zu spüren. Ich frage mich, wo Jan und Sydney einquartiert wurden und ob sie auch so nah beieinander liegen müssen. Oder ob Jan bei der schönen Mirtha liegt und Sydney in Albas Arm.
„Ich schnarche“, sagt Albrecht.
„Doch nur, wenn du schläfst, oder?“
„Magst du noch einen Schluck?“ Er hält mir die Rumflasche hin.
„Für den Tiefschlaf?“ Ich nehme sie ihm ab und trinke. Dann schweigen wir. Die Stadt ist so wach wie jede Metropole, nur ist mehr Musik statt Verkehrslärm in ihr. Ab und an rumpelt ein Wagen vorbei, manchmal wirbelt Lachen herauf oder ein einsames Saxophon klagt.
„Ich habe keine Erklärung“, sage ich diesem Zimmer. Für nichts. Nicht dafür, wie wir nach Havanna gekommen sind, nicht für die Rettung unserer Retter, nicht für die Männer, von denen Albrecht behauptet, sie seien jene aus Leonardo Paduras Roman.
„Wir sind auf einer Insel.“
„Ja, und?“
„Hier kann niemand weg, so ohne weiteres. Und alles Nötige muss da sein, muss erhalten werden, wenn man nichts hat. Wie die Autos wird auch Albas Zauber, oder was sie da gemacht hat, erhalten. Die Geschichten und Legenden bleiben da. Deswegen hat es mich nicht überrascht, Teniente Conde zu treffen.“
„Sei nicht albern, Albrecht.“
„Was hast du eigentlich Dario eingeflößt? Es stand nicht gut um ihn, nicht?“
Er war praktisch tot, aber das sage ich nicht. Ich sage überhaupt nichts. Der Rum kreist in meinem Kopf.
„Weißt du, ich glaube, der liebe Gott hat Kuba gemacht, damit er eines Tages, wenn er alt ist, einen Platz hat.“ In Albrechts Kopf kreist auch Rum, wie es scheint.
„Meinst du, er ist mit Voodoo einverstanden?“
„Er wird begeistert sein, wenn man ihm damit helfen kann. Gegen seine Arthrose oder seine Demenz zum Beispiel.“
Mein Kichern klingt beschwipst. Ich rolle mich auf die Seite, stütze den Kopf in die Hand und betrachte Albrechts Profil im Schein der Kerze. Zwischen dunklen Wimpern glänzt sein Auge, darüber wölbt sich die kräftige Braue. Dem Fältchen vor dem Ohr würde gern mein Finger folgen. Es ist schön hier mit ihm. Sein Körper strahlt Wärme über die kleine Distanz zu meinem herüber. Lange hatte ich keinen warmen Leib bei mir. Die Menschen, denen ich nah war, sind längst kalter Staub.
In den letzten Jahren habe ich mir einfach nicht mehr die Mühe gemacht, mich darum zu kümmern, wen bei mir zu haben. Es hat mich zunehmend gelangweilt, die Nacht mit jemandem zu verbringen. Meine dritte und letzte Ehe endete im Krieg. Nachdem mein Vater gestorben war, der es für wichtig, ja notwendig, hielt, dass eine Frau einen Ehemann hat, (was ist eine Frau ohne Mann?) sah ich keine Veranlassung mehr, mich neu zu vermählen. Ich mochte die Männer, ich mag sie noch. Einige Liebhaber gab es, keinen, der mein Herz berührt hätte. Und in den letzten Jahrzehnten sind sie mir einfach zu jung geworden.
Als mir gerade einfällt, dass ich mich nicht an eine unerotischere Situation erinnern kann, in der ich mit einem Mann das Lager geteilt habe, sagt Albrecht: „Dürfte ich dich küssen?“, und blickt mit seinen Augen unbestimmter Farbe in meine, tief hinein in sie. Ich wundere mich noch über das kleine Ziehen in der Brust, und darüber, dass ich seine Lippen auf meinen spüre, ohne dass ich die Frage beantwortet hätte. Sein Mund schmeckt nach Rum, ein wenig süß. Während unsere Lippen sich öffnen, unsere Zungen dieses Spiel spielen, belauern sich unsere Blicke. Keiner, der zuerst hineinfallen will in diesen Kuss, sich hingeben ans Fühlen. Meine Hände tauchen in seinem Schopf unter, tasten sich am Nacken entlang, weiter über den Rücken, der sich so erstaunlich glatt anfühlt, wie er aussieht. Seine finden meinen Hals.
„Ich mag Hälse“, flüstert er in den Kuss. Ich denke kurz darüber nach, ob ich auch Hälse mag, aber es ziehen nur Bilder von verkalkten Schlagadern, überdimensionalen Schilddrüsen und die zerfressene Speiseröhre eines Kindes, das Putzmittel getrunken hatte, vorbei. Ich stoppe den Film und den Kuss, und betrachte seine Stirn, hinter der so viele Geschichten aus Büchern wohnen. Seine Hände gleiten an meinem Körper entlang, als wären sie längst mit ihm befreundet, finden meine Brüste, zupfen an den Mamillen, wenden sich neugierig der Taille zu, entdecken meine Hüften … schön ist das. Vielleicht liegt es am Rum. Ich angle nach der Flasche, trinke, halte sie ihm an den Mund, er trinkt, ich küsse ihn wieder. Man kann ihn wunderbar küssen. Dann drücke ich ihn auf den Rücken, er lässt es geschehen, lächelt. Ich lasse meinen Blick über seine Brust gleiten, die mit dunklem Haar bewachsen ist, wie bei einem Erwachsenen eben, streiche mit dem Finger die Mittellinie entlang bis zum Schambein. Kein Schnitt, nur ein Streicheln, das sich über seinen angemessen runden Bauch wölbt. Er hält die Augen geschlossen, ich spüre die Anspannung in seinem Körper, der halb so alt ist wie meiner und doppelt so alt aussieht. Ich beneide ihn darum, um das Altwerden. Langsam rolle ich mich über ihn, spüre sein Glied, das sich nicht recht entscheiden kann und drücke mein Gesicht in seine Halsbeuge.
„Du riechst gut.“
Seine Arme halten mich, ein bisschen steif, wie ich finde. Es ist, als habe er plötzlich Stacheldraht ausgelegt zwischen uns.
„Ich kann nicht“, sagt er.
„Ich hab schon so oft. Ich brauch nicht. Sei nicht so ungemütlich.“ Männer denken immer, sie müssten. Okay, sie müssen ja auch. Aber vor allem sollen sie nicht ungemütlich sein, wenn sie nicht können. Seine Arme entspannen sich und er nimmt mich bei sich auf. Schön ist das. Nah und leicht und selbstverständlich.
Von draußen swingt eine Melodie herein. Wir teilen uns den letzten Rum, legen uns dicht zueinander, eingehüllt jeweils von der Wärme des anderen, es muss ja nicht immer Liebe sein. Genaugenommen kann ich mich an Liebe nicht erinnern, obwohl ich mir viel Mühe gegeben habe, das zu empfinden, was andere unter Liebe verstehen. Bücher habe ich darüber gelesen, Erfahrungsberichte gehört, Expertenrat eingeholt. Ich kann mich nicht an Liebe erinnern und ich weiß um meinen Makel.
Jetzt jedenfalls liegen wir in dieser kleinen Freude und warten auf den Tag, auf einen neuen Tag unter dem berauschenden karibischen Blau.