Rolf Schneider, Die Reise nach Jarosław, Roman, eBook, Culturbooks Hamburg 2014, S. 195, 4,99 Euro (Erstveröffentlichung 1974)
Wenn ich über diesen Roman schreibe, kann ich das nur streng subjektiv, also subjektivsubjektiv, tun (abgesehen davon, dass Literaturkritik eh subjektiv ist, sein muss, denn sie widerspiegelt jemandes Haltung zu einem definierten Zeitpunkt, natürlich auf Grundlage seines Wissens, seiner Erfahrungen und Überzeugungen).
Jedenfalls las ich „Die Reise nach Jarosław“, als ich etwa so alt war wie Gittie. Da mochte ich Gittie nicht. Es hätte anders sein müssen, denn was sie tat – abhauen von zu Hause – tat ich gerade auch. Nur hatte ihr Berliner Leben so wenig mit meinem gemein, dass ich den Eindruck gewann, sie lebe auf einem anderen Planeten. Und gewissermaßen war es auch so. Da war Berlin und da war das Land – durchaus verschiedene Kontinente, was man von Westen aus sicher nicht erkennen konnte. Gittie hasst ihre angepassten, strebsamen Eltern, die sie „die Greise“ nennt. Materielles gibt es genug, nur Wärme fehlt im Haus, wäre da nicht die polnische Großmutter. Als die stirbt und die Eltern in eine Plattenbauwohnung umziehen, fühlt sich Gittie verlassen.
Nun bin ich nach Jahrzehnten und diversen Umbrüchen Gittie wieder begegnet. Mit mehr Abstand, mit dem Blick der Elterngeneration. Es ist schön, erinnert zu werden. An die Ortsnamen – Prenzlau, Anklam, Tangermünde, an Kiefern und Sand, an Nächte am Strand. An die Zeit des Aufbruchs in ein Leben. Zumindest kam einem das so vor.
Gittie trifft den polnischen Studenten Jan, mit dem sie in die Heimat ihrer Großmutter nach Jarosław will, während er Backsteingotik will. Man siezte sich damals und für den Handkuss waren die polnischen Männer bekannt. Die beiden jungen Leute reisen durch Polen, d.h. sie trampen, weil ihnen die Mittel für den Zug fehlen. Trampen ist toll, denke ich beim Lesen, erinnere mich an glutheiße Landstraßen und an Begegnungen zwischen Familienanschluss und Gewalt.
In Oberschlesien geht ihnen das Geld aus, sie arbeiten eine Weile auf dem Bau bzw. Gittie in einer Gießerei. Harte Arbeit unter herzlichen Menschen. Ihre frische Liebe übersteht das, nur den Regen nicht, der einsetzt. Tage bringen sie bei einem Künstler zu, der mit ihnen seine Dosenkost und die Geschichte der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts teilt. Sinnlich, bunt und aufregend ist das ganz unaufgeregt erzählt. Wunderbar erdverbunden und dennoch glitzernd sind die Eindrücke, die Gittie über Polen gewinnt. Sie erfährt eine Menge über „die Polen“, ihre Vorbehalte gegen „die Deutschen“, ihre Gastfreundschaft, ihre Kultur. Mir kam Gittie seltsam naiv und unangemessen unpolitisch vor, seinerzeit. Heute verstehe ich sie besser. Sie ist halt ein Kind am Rand zum Erwachsensein. Damals war ich selbst so eines. Vielleicht habe ich sie auch um die Reise beneidet, denn bevor ich mich zu einer Reise entscheiden konnte, machten sie Polen zu, 1981 war das. „Jetzt noch die Tschechen dicht und die Ostsee unter Strom, dann haben wir die Freiheit der Sterne“, hab ich damals gesagt.
In Rolf Schneiders Roman jedenfalls ist jede Menge Freiheit, jede Menge Zeitgeschichte, jede Menge Sinnlichkeit. Und weil heute die Kinder auch noch erwachsen werden müssen, lohnt sich die Lektüre unbedingt.