Martin von Arndt hat mit „Tage der Nemesis“ nach „Oktoberplatz“ wieder einen faszinierenden Roman geschrieben. Diese Rezension ist auch auf CULTurMAG zu finden:
Gut, dass Martin von Arndt seinem Roman ein Vorwort voranstellt, in dem er zum einen das Thema, den Genozid am armenischen Volk, umreißt und zum anderen die Rolle von einzelnen Bevölkerungsgruppen, die den Mord an den Armeniern ablehnten und einzelne retteten, würdigt, denn zunächst treffen wir auf ziemlich seltsame Ermittler da im kalten, regnerischen Berlin der 1920er Jahre. Fast fühlt man sich an Sherlock Holmes und seinen Doktor erinnert, als Andreas Eckart mit seinem Assistenten Rosenberg eine Reinszenierung des Mordes an einem türkischen Obsthändler abzieht. Nach einer ersten kurzen Irritation stellt man fest, dass der Obsthändler kein Obsthändler und Eckart, Gott sei Dank, kein Holmes-Verschnitt ist.
Der Tote ist Talȃt Pascha, ehemaliger Großwesir im Osmanischen Reich und ein Hauptverantwortlicher für den Massenmord an den Armeniern. Sein Mörder wird gefasst, bevor er gelyncht werden kann, und sitzt in der „Fabrik“, dem Polizeipräsidium auf dem Alexanderplatz – ein junger, fahriger Mensch, dessen Reaktionen Eckart an seine eigenen Kriegstraumata erinnern. Sie hießen damals noch nicht Traumata. Von Arndt hat für jene, die sie im ersten Weltkrieg erlitten, den bildstarken Begriff der „Kriegszitterer“ ausgegraben. Überhaupt gerät man während der Lektüre immer weiter hinein in die funzelig beleuchteten Straßen der Stadt, in die verrauchten Kneipen, in die zugigen Büros. Da gibt es das Fräulein vom Amt, Geräusche in den Telefonleitungen, Stenotypistinnen, Schlafgänger, Gerüche nach Karbol und Lavendel, die Elektrische, Dienstgrade, die die Polizisten noch die Hacken zusammen schlagen lassen … Dem Autor gelingt es, die Atmosphäre jener Jahre, sinnlich erfassbar zu machen, eine Stärke, mit der bereits der Vorgängerroman, „Oktoberplatz“, glänzte.
Eckart verfranzt sich zwischen den Linien. Die weltweit operierende Terrororganisation Nemesis, der auch die bezaubernde und moderne Dolmetscherin angehört, in die er sich verlieben würde, wenn die Zeit es zuließe, fordert seine moralische Stellungnahme heraus: Darf der Einzelne morden, wenn der mächtige Staat seiner Aufgabe der Rechtsprechung nicht nachkommt?
Im Auswärtigen Amt ziehen „Onkel“ Klant und die Kaisertreuen die Fäden. Eckart ist von Klant unterstützt worden, nachdem er seine römische Mutter verlor und dem hyperprotektiven Vater ausgeliefert war. Aber nach den Grauen des Krieges will er sich frei machen von väterlichen Ansprüchen und „erwachsen werden“, wie er sagt. Darum kämpft er, nicht völlig ohne Halt, wenngleich er begreift, dass seine Morphinsucht ein untauglicher ist.
Ein weiterer politischer Mord, der die Handschrift von Nemesis trägt, zieht Eckart nach Rom, der Stadt seiner Kindertage. Im sonnenwarmen Italien erfährt er eine kurze Zeit der Freundschaft und Verbundenheit. Aber der aufkeimende Faschismus fordert die ersten Todesopfer, die Polizei ist machtlos. Zurück in Berlin holen ihn die Armut, die Kälte und das Preußische ein. Und: Er wird eine Entscheidung treffen müssen …
Martin von Arndt hat sich einem komplexen Thema auf eine sehr klare und sehr differenzierte Weise genähert. Das nachkriegswirre Europa, die vielfältigen Interessen, Verletzungen, die Verschiebungen von Machtverhältnissen, die sich aus dem ersten Weltkrieg ergaben – man könnte sich verlieren darin. Doch der Autor erzählt die Geschichte so stringent und fundiert, wie spannend, atmosphärisch und einfühlsam. Verschämt im letzten Absatz des Klappentextes wird sie als „Politthriller“ angekündigt, als „Roman“ auf dem Cover. Die Intention des Verlages liegt auf der Hand. Weshalb „Kriminalliteratur“ immer noch von „Hochliteratur“ abgegrenzt werden muss, wenn oder obwohl sich ein Text als Kleinod erweist, bleibt ein Rätsel. Aber sei’s drum. Dieser Kriminalroman ist eines.
Martin von Arndt: Tage der Nemesis. Roman. Cadolzburg: ars vivendi verlag 2014. 307 Seiten. 18,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch und die Homepage des Autors.