Rezension: „Tote Winkel“ von Sophie Sumburane

Durch den Nebel

 … finden Valentina, Katja und Kay erst einmal nicht.

Zwar heben sich kurz die Nebelschleier, denn Valentina muss zur Kenntnis nehmen, dass ihr Ehemann in Haft genommen wurde, weil er eine Frau, Katja, vergewaltigt hat – bis sie sich wieder senken und Valentina ihr sauber geschrupptes, von Zählzwängen zusammengetackertes Leben weiterlügen kann. Nur das Foto von dieser Katja … Die Frau ähnelt Valentina wie ein Zwilling. Das kann doch nicht sein, oder?

Kay weiß einfach nicht, wie der traumatisierten Katja zu begegnen ist, was zu tun ist mit diesen wilden, überbordenden Gefühlen, die Katja versucht, bei sich zu halten, bis es ihr nicht mehr gelingt und sie in der Psychiatrie landet. Die beiden hatten ihr Leben in Arbeit – Kay hat eine Professur in Linguistik an der Universität Potsdam –  und behutsam dosierter Nähe eingerichtet, sogar etwas Freude hatte hineingefunden, nach … allem. Und nun? Scham und Ohnmacht.

Die Gewalttat des Mannes, dem im Roman nicht einmal ein eigener Name gewährt wird, kippt die drei Protagonist*innen aus ihren sorgsam gezimmerten Normalitäten, bis sich ihre Leben im Jetzt verstricken. Dass sie längst tief in der Vergangenheit verwoben sind, ahnen sie nicht.

Durch Sprachklammern aber auch durch die erlebte Gewalt werden ihre Geschichten zusammengehalten. So beginnen drei Kapitel mit: „Als ich noch ein Kind war …“ oder mit: „Und wenn ich nicht allein war …“ Was dann folgt, ähnelt sich ebenso, wie es sich unterscheidet.

Sophie Sumburane entfaltet in ihrem Roman ein ganze Palette von intrapsychischen Reaktionen auf sexuelle und psychische Gewalt, auf Misshandlung und Vernachlässigung, erzählt von den Deformationen, die Menschen durch frühe Gewalterfahrungen prägt, von Abwehrmechanismen wie „Identifikation mit dem Aggressor“ (vgl. „Stockholmsyndrom), „Verleugnung“ oder „Reaktionsbidlung“, macht verständlich, weshalb misshandelte Kinder sich als Erwachsene mit Misshandlern verbinden, weshalb sie wieder Schmerz erleiden, obwohl es doch leicht wäre, sich zu entziehen. Oder?

All diese Traumafolgen zeichnet Sophie Sumbrane so plausibel und genau, dass ich als Leserin, aber auch als eine, die psychotherapeutisch mit Traumapatient*innen arbeitet, tief beeindruckt bin. Ganz großartig fand ich die Darstellung der unterschiedlichen Varianten von Dissoziation (wie im Nebel gehen; Selbstverletzung, damit man sich spürt, auch straft, nicht zerfällt usw.) oder auch die Versuche der Selbstberuhigung (Alkohol, essen, zählen, arbeiten, putzen). Die Symptome als Traumafolgen sind hier so exzellent gezeigt, dass man die Träger*innen im Kampf gegen ihr inneres Leid, gegen die Wut und die Scham, gegen den Hass und die Ohnmacht verstehen kann. Organisch erscheinen sie mit den Protagonist*innen verbunden bzw. ihr Selbst bestimmend, nichts wird skandalisiert oder wirkt wie aus Lehrbüchern kopiert, wie man es bedauerlicherweise oft zu lesen bekommt.

Die Katastrophen und ihre Folgen im Inneren wie im Handeln erzählt Sophie Sumburane ruhig, dicht und präzise, bis Valentina, Katja und Kay neue, unterschiedliche Lösungen finden und Wege gehen, die die Leserin zwar nachvollziehen, aber nicht gut ertragen kann. Das und die lakonische Sprache macht „Tote Winkel“ zu einem sensibel entwickelten, fein gewobenen, intensiven, verstörenden Roman, der lange nachhallt.

  • Sophie Sumburane: Tote Winkel. Edition Nautilus, Hamburg  2022. 198 Seiten, 18 Euro.

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