Verräter? – „Kolbe“ von Andreas Kollender, eine Rezension

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Andreas Kollender, Kolbe, Kriminalroman, Pendragon Bielefeld, 2015, S. 444, 16,99 Euro

Fritz Kolbe, den Vorzimmermann im Auswärtigen Amt, hat es wirklich gegeben. Er starb 1971 in Bern, berichtet das Nachwort. Seine Spionagetätigkeit für den amerikanischen Geheimdienst in Nazideutschland wurde erst 2005 durch den Journalisten Lucas Delattre öffentlich bekannt. Andreas Kollender würdigt in seinem Roman den „kleinen Mann“, der das Richtige tun wollte.

Kurz nach dem Überfall auf Polen wird die deutsche Botschaft in Südafrika geschlossen, die Diplomaten, mit ihnen Kolbe, der seine geliebte Tochter in Sicherheit zurück lassen muss, werden nach Berlin zurückbefohlen. Schon auf dem Schiff verschärft sich das Klima, die Nazis legen ihre Masken ab. Oder an? Schwer zu sagen, wer was wirklich glaubt, wenn geltende Normen unter dem Totalitarismus brechen.

Kolbe bekleidet über Jahre eine subaltere Stelle im Auswärtigen Amt, während sein Schweigen angesichts des Unrechts, von dem er weiß, ihn quält. Bis er eine Möglichkeit findet, geheime Unterlagen aus dem Amt zu schmuggeln und den Amerikanern zu zuspielen. Dem ersten Triumph folgt eine neue Qual, nämlich die des Doppellebens eines Agenten, der keiner ist. Kolbe fehlt so ziemlich alles, was die Agenten von John le Carré z.B. haben – das nötige Handwerkszeug eines Geheimdienstmannes. Er hat nichts als seine Überzeugung, dass falsch, menschenverachtend und zynisch ist, was die Nazis tun. Deshalb spioniert er. Der einzige Halt in seiner Einsamkeit ist Marlene Wiese mit der schönen Nase. Die Liebesgeschichte im kriegsgeschüttelten Berlin gerät ein wenig schwülstig. Zu oft gehört, zu oft gelesen, wie Menschen ihr privates Glück inmitten von Chaos bewahren. Sei’s drum.

Das Doppelleben des Fritz Kolbe dient einer guten Sache. Er will, dass der Krieg schnellst möglich beendet wird. Doch warum bombardieren die Amerikaner die Wolfsschanze nicht, nachdem er ihnen den Ort bezeichnet hat? Stirbt sein bester Freund durch die Folgen seiner Spionage? Kolbe glaubt das, als ein Sender in Irland atomisiert wird und die Frau des Freundes, den Verlust nicht erträgt, sich selbst tötet.

Kann man in Zeiten einer Gewaltherrschaft das „Richtige“ tun? Das am wenigsten Falsche vielleicht, auch wenn man nicht damit rechnen kann, dafür Anerkennung zu bekommen. Die wird Fritz Kolbe tatsächlich erst posthum zuteil, 60 Jahre nach dem Ende der Diktatur. Er selbst leidet an der Lüge, an der systembedingten Deformation, die ihm zum zweiten, hässlichen Selbst wird.

In dem historischen Kriminalroman stellt Kollender die Frage nach der Rechtschaffenheit von „Verrat“, die durchaus aktuell erscheint, denkt man an Edward Snowden, die Frage nach der Rechtfertigung von persönlichen Konsequenzen und Opfern. Und er erzählt spannend, gekonnt und bildhaft von einem Beispiel an Zivilcourage.

Anmerkung: Wer ist ein Verräter?

Einer, der dem sozialen System, in dem er lebt, schadet. Gleichgültig, wie sehr das System seinen Mitgliedern schadet, wird er von den eigenen Leuten und von denen anderer Systeme dafür verachtet, ausgegrenzt, verfolgt. Das ist zwar nicht richtig und gleich gar nicht gerecht, folgt aber der absurden Logik, dass das System Vorrang vor allem, auch vor moralischen Grundsätzen, hat. Angesichts der sich zuspitzenden Gewalt gegen das Fremde, könnten ein paar mehr „Verräter“ heute auch nicht schaden.

2 Kommentare

  1. Ein spannendes Thema. Ich wünschte wirklich, es würde mehr und öfter darüber diskutiert, wie man im ethischen Sinne „richtig“ handelt – auch wenn und gerade weil es darüber naturgemäß unterschiedliche Ansichten gibt – und nicht nur „richtig“ im Sinn des eigenen Vorteils.

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