Die Generation, die keine Zeit hat für Langeweile

Morgens stehe ich Sechsuhrfünfundzwanzig auf, trinke zwei Pötte Kaffee, lese die News und fahre dreizehnkommafünf Kilometer in meine Praxis. Über Land. Manchmal scheint die Sonne. Von diesem Ereignis mache ich ein Foto und stelle es auf Instagram. Ich treffe vier Menschen am Vormittag und vier am Nachmittag, denen es momentan schlechter geht als mir. Wir reden nicht darüber, wie man glücklich wird. Für solchen Unfug hab ich keine Zeit. Wir reden darüber, wie man anständig und frohen Mutes nicht allzu unglücklich sein kann. Günstigstenfalls wird gelacht. Die Mittagspause verbringe ich mit meiner Kollegin, die sich um unglückliche Kinder kümmert, und selbstgekochtem Essen. Montags bringt sie was mit, dienstags ich usw. In Tupperdosen. Es wird ziemlich viel gelacht. Den Sonnenuntergang fotografiere ich nie. Spülmaschine, Wäsche, Blumen gießen. Eine Freundin hat Sorgen, der Sohn hat Sorgen, der andere Sohn nicht. Mein Mann redet über ein Buch, das er blöd fand. Ich rauche ca. zwanzig Selbstgedrehte am Tag. Ich gehöre der zweiten Generation an. Wir sind im Frieden geboren. Das ist schon was. Dann lese ich. Alles, was mir entgangen ist, als die Kids noch klein waren, als ich bis sieben im OP gestanden hab, als ich zu müde war fürs Leben. Ich trinke einen Ron caney oder einen Müller-Thurgau von der Unstrut. Ich schreibe an meinem Roman weiter, den keiner lesen wird. Über „das gute Leben“ und ob wir eins haben und was das sein könnte. Ich gehöre der zweiten Generation an. Ich bin alt, Gott sei Dank. Manfred ist nur acht geworden. Er starb in Theresienstadt. Das war vor meiner Zeit. Ich wollte ja nie Söhne. Nun hab ich zwei. Ich wollte sie nicht, weil sie in den Krieg hätten müssen können, auch jüdische Söhne. Es kam dann anders. Aber wer weiß schon, was kommt? Töchter hätten es womöglich nicht gut gehabt bei mir. Ich lausche auf youtube spanischen Liedern, und russischen. Ich wäre gern gereist, aber dafür fehlt das Geld. Und die Zeit. Vielleicht, wenn ich ganz alt sein werde. Dann! Ein Gedicht noch für einen ohne Herz, vielleicht. Schließlich ist es viel zu sehr Nacht. Sechsuhrfünfundzwanzig ist nur einen knappen Schlaf weit weg …

7 Kommentare

  1. Ich mag sehr den beiläufigen Ton des Textes. Vor langer Zeit habe ich mir verboten, jemals von einem Text zu sagen, er sei lakonisch – jetzt gerate ich doch in Versuchung. Aber vor allem mag ich es, wie sich an vielen Stellen weitere Räume öffnen …

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  2. Die Goldsammler, die in den Westen kamen, dachten immer, in den Flüssen und Bächen glitzernde Goldkörnchen finden zu können. Was sie fanden waren schwarzbraune Klumpen, denen man das Gold mit Sieben und Bürsten entreißen musste. Dein Text ist ein Nugget. Er enthält Gold; man ahnt es, sieht es durchblitzen; bürsten und sieben wirst du noch müssen, du wirst sehen, es lohnt sich.

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    1. Danke Dir, lieber Christopher.
      Es ist ein Textlein, dass einem so abends über den Weg läuft, wenn die Gedanken verschlungene Wege wandern. Solche Texte leben dann hier auf dem Blog. Für nichts sonst sind sie da. Deswegen würde ich dieses unbeglänzt lassen. 🙂

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