Ganz großes Kino – „Boogie Man“ von Nathan Larson

Nathan Larson, Boogie Man, Diaphanes, Zürich-Berlin 2014, Penser-Pulp-Reihe, Übers.: Andrea Stumpf, Hrsg: Thomas Wörtche, S. 288, 17,95 Euro

Dewey Decimal hinkt wieder durch das Chaos seines geschundenen New York. Aus dem ersten Band („2/14“ – hier geht’s zur Rezension) der Trilogie wissen wir, dass am Valentinstag 2014 „Begebenheiten“ die Stadt und vielleicht, keiner weiß es, Teile der Welt verwüsteten. Die Mehrheit der Bevölkerung ist geflohen, die Straßen sind verwaist, ganze Viertel zerstört, über allem wabert gelbbrauner Gestank – Endzeitstimmung. Dewey hat seinen städtischen Auftraggeber erschossen, der ihn als Bibliothekar der New York Public Library einsetzte, damit er Ordnung schaffe (nach dem Dewey Decimal System), der ihn mit Pillen versorgte und gelegentliche Killerjobs verteilte. Dewey tötet jene, die es verdient haben, sagt er. Nur funktioniert seine Moral so mies wie sein Hirn, in das Zeugs implantiert wurde, und sein malträtierter Leib. Immerhin arbeitet er nun selbständig und widmet sich dem Aufräumen der Bibliotheksbestände, käme ihm nicht die Gerechtigkeit dazwischen. Ein weit zurück liegender Mord an einer Prostituierten und ihrem Kind schicken ihn auf die Suche nach dem Mörder, der sich in höchsten Regierungskreisen vermuten lässt, denn es knallt, bevor Dewey Piep sagen kann. Die ganz großen Kanonen werden von Highttech-Söldnern aufgefahren. Ihre Organisation ersetzt nicht nur das staatliche Gewaltmonopol, sondern produziert und vertickt alles, was Mensch so braucht und nicht braucht. Wobei es eine Anzahl solcher Organisationen in einer Art Basisdemokratie gibt, die sich natürlich unfreundlich gesinnt sind. Überhaupt ist alles in dem Roman von ganz groß bis ganz nichtig angelegt. „Ich bin die Vereinigten Staaten“, lässt Larson den Gegenspieler Deweys in einer in Agonie liegenden Stadt sagen. Dewey als ÜBERlebender versucht, eine schöne Frau zu retten. Das tut er in Anzügen, die er aus Läden mitnimmt (Geld ist unnötig. Basisdemokratie!), die er braucht, um einen Rest Würde zu behalten, während er nicht einmal über eine zuverlässige Erinnerung verfügt, geschweige über einen Namen. Vor dem fürchtet er sich: „Lieber schau ich, wie alles vor die Hunde geht, als dass ich meinen eigenen Namen erfahre.“ Er stellt sich seiner (sowieso subjektiven) Wahrheit nicht, stattdessen stabilisiert er sein brüchiges Selbst durch Zwänge: Händedesinfektion, „seinem System“, nachdem er die Stadt durchhinkt, Pillen, die womöglich nix als Stärke enthalten, denn er nimmt sie auf jeder zweiten Seite ein, was ihm zu einigen Kalorien verhelfen dürfte – gegessen, getrunken, geschlafen wird nämlich fast nie. Einen Namen zu haben, einen Begriff (Worte, eine Form ganz allgemein) für etwas oder jemanden, mindert die Angst. Das wissen wir seit Rumpelstilzchen. Doch Dewey …

Man könnte ihn als das Menschliche an sich verstehen, so zäh, wohlmeinend, hilfsbereit, herzlos, überlebenswillig, ignorant und desorientiert wie er ist. Zumindest als das Männliche im Menschlichen, denn es gibt zwar mächtige, bezaubernde, defekte Frauen auf allen Seiten, doch sie werden entweder entführt, gerettet oder getötet. Dewey ist da liberal und ganz Gentleman. „Ja, ich leide, auch wenn das niemand glaubt. Ich leide sehr, und diesen Schmerz häuf ich auf alle, die mir nahekommen“, sagt er, womit wir im Jammertal menschlicher Existenz angekommen wären.

Es empfiehlt sich, mit „2/14“ zu beginnen, will man sich der Figur Dewey anschließen und seinem gebrochenen Sosein folgen. Aber man muss nicht, denn rasant, ballerig, finster und komisch erzählt Nathan Larson, der ursprünglich übrigens Musiker ist, in seinem zweiten Roman. Wilde Szenen, schnelle Schnitte, peppige Dialoge und ein atemberaubender Rhythmus prägen dieses schwarze Stückchen Literatur. Das ist ganz großes Kino.

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