Zoran Dvrenkar, „Still“ – Vom falschberechtigten Vorurteil

Zoran Drvenkar, Still, Thriller, Eder & Bach, Berlin 2014, S. 416, 16,95 Euro

Man soll keine Vorurteile haben, aber man hat sie, weil man sie braucht. Bestenfalls kann man sich von ihnen befreien und dem Gegenüber neugierig begegnen. Genau das musste ich mit diesem Roman tun, denn ich hatte „Du“ von Zoran Drvenkar nach der Hälfte genervt weggelegt. Also nehme ich mein Wohlwollen und begebe mich in den Text. (Menschen, auch Autoren, entwickeln sich).

Der beginnt mit dem Kapitel: SIE. Sie sind eine Handvoll Männer, die aus einem Eisloch im See nackt in eine warme Hütte schlüpfen, anschließend lauern sie auf ihre Chance zu einer Entführung. Sie sind clever, omnipotent und böse.

Das Kapitel: DU. Du bist Lucia, 13 Jahre alt. Deine Entführung wird erzählt, und wie du sechs Jahre lang schweigend, tot für dich selbst, auf deine Erinnerung wartest. Du bist das Opfer.

Kapitel: ICH. Ich bin Lehrer, suche meine Tochter und nehme dafür in eine neue Identität an, um mit den mutmaßlichen pädophilen Entführern Kontakt aufzunehmen. Nach gründlicher Vorbereitung begebe ich mich unter sie, werde einer von ihnen. Ich bin der Rächer.

Diese klare Struktur wird fortgeführt und entspricht damit formal der Hypothese, Disziplin könne aggressive Impulse kontrollieren.

Die 2. Person als Erzählperspektive mag ich nicht. Zu suggestiv scheint sie mir. Einem fremden Ich kann ich folgen oder es sein lassen. Ein Du vereinnahmt mich stärker, schreibt mir etwas zu, auch oder obwohl es sich an Lucia wendet.

Überhaupt Lucia, die einzige Überlebende der entführten Kinder. Ein Leichtes wäre es für die übermächtigen Entführer, das Mädchen zu killen. Sie tun es nicht, obwohl Lucia niemand braucht, niemand will, nicht einmal ihre Eltern, niemand außer dem Plot. Um ihr Überleben zu sichern, müssen ein paar ideologisierend pseudomoralische Verrenkungen gemacht werden.

Vieles wird gedreht, gehobelt, geschoben, damit es in die Geschichte von Geheimbündlern, die Kinder abrichten, um Kinder zu töten, passt. Ein Beispiel: Der Lehrer lässt sich Schlaftabletten verschreiben. Damit will er seine Gegner kampfunfähig und redselig machen. Es wirkt innerhalb von Minuten. Tolles Zeug! Bloß gibt es solch ein Zauberding halt nicht. Braucht ja auch keiner, außer eben der Plot.

Spannend ist dieser Roman. Er lässt mich voyeuristisch auf die sadistischen Männer, die in ihrem öffentlichen Leben Familienväter und nette Kerle sind, starren. (Frauen kommen dagegen als Opfer oder Verräterinnen vor.) Sie sind mächtige, gut organisierte, traditionsverhaftete Bestien. Für die Spannung ertrage ich sogar die schiefen Bilder, die oft juxta vorbeigehen am Treffenden. Spannung ist die Qualität des Romans. Zugegeben die einzige, die ich erkennen kann, denn es bleibt mir ein Rätsel, was er mir sagen möchte. Dass es grausame Menschen gibt, die nachts Kinder aus ihrer wohlgeordneten Umgebung klauen, um sie zu misshandeln und zu töten? (Da wird der Angstknopf jedes Menschen, der Eltern ist, gedrückt, gell?) Dass die Polizei deren Treiben ohnmächtig gegenübersteht, weil sie als Instanz eh hilflos ist? (Wir haben doch immer gewusst, dass die nix auf die Kette kriegen, weil sie faul, ignorant, unterbezahlt und/oder beamtet sind, ne?!) Dass nur das Opfer selbst den Schlüssel zu seiner Befreiung von Scham und Schmerz in den Händen hält? (Und deswegen auch verantwortlich ist.) Dass Tätern gleiche Gräuel widerfahren sollen wie den Opfern? (Schwanz ab für Pädophile, genau!)

Ich weiß nicht, was mir der Roman erzählen will, ehrlich.

Und ich hasse es, wenn mir jemand sagt, was ich fühlen soll. Der Ductus des Romans zwingt sich auf. Doch ich möchte mich Figuren anschließen dürfen. Ich bin nicht zimperlich, ich gehe weit mit. Wenn ich will. Hier darf ich nicht wollen können.

Noch nicht einmal lachen darf ich, denn die konsequente Ironiefreiheit ist eine weitere Bedauerlichkeit.

Ich hoffte, mein Vorurteil würde sich nicht bestätigen. Hat es aber. Leider.

1 Kommentar

  1. Das Buch scheint ja so ziemlich alles zu in sich zu vereinen, was ich nicht mag. Aber bei dem Thema wäre ich ohnehin nicht in Versuchung gekommen. Die Kritik zu lesen macht sicher mehr Spaß als das Buch 🙂

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