Andrej Kurkow, Der Milchmann in der Nacht, Roman, Diogenes, Zürich 2009, Übers.: Sabine Grebing, S. 554, 11.99 Euro
Täglich in aller Frühe, durch Wind und Eis, bringt Irina ihre Muttermilch in eine Kiewer Milchküche, nährt dagegen ihr Töchterchen mit Trockenmilch. Als alleinerziehende Mutter muss sie anbieten, was sie hat. Arbeit gibt es auf dem Dorf nicht, stattdessen Wärme und Pragmatismus. Irina ahnt nicht, wie begehrt der Lebenssaft bei den Parlamentariern ist, denn keinem fremden Kindlein wird er gegeben, wie man Irina glauben macht, sondern den Staatsvertretern, die sich Jugend und Macht durch ihn erhoffen.
Sätze wie „Die Ukraine ist eine alleinstehende Mutter […] Alle wollen mit ihr schlafen, aber geheiratet wird nicht.“ erzählen von Hilflosigkeit und Ausbeutung, und von der Zerrissenheit zwischen der Abhängigkeit von Russland und den Verlockungen der Europäer.
Irina verliebt sich, und mit Jegor scheint ein kleines, familiäres Glück auf. Frei von Versuchung durch Wohlstand bleibt es nicht, soviel sei verraten.
Andrej Kurkow verwebt die Schicksale dreier Paare unterschiedlicher sozialer Herkunft und zeichnet so die krassen Gegensätze von Stadt und Land, Tradition und Moderne, Aberglauben und Kirche (noch ein schönes Zitat: „Sagt, ich kann meinen Freunden keine ungetauften Welpen schenken! Bei uns, sagt er, ist jeder Hund orthodox!“), Altkommunisten und Konservativen in prallen Bildern. Der Autor bietet einen Insider-Blick in eine sich neu organisierende Gesellschaft, die schwere Verwerfungen verkraften muss. Komisch, skurril und zu tiefst realistisch sind seine Figuren. Ein wenig erinnert der Roman an russische Märchen, auch wenn die Ukrainer längst nichts mehr zu tun haben wollen mit Russland. Nur manche zieht es fort ins ferne Saratow, wo man ihnen ein gutes Leben verspricht.
Denn in Kiew tut sich etwas, wovon die Bevölkerung nichts merkt, etwas Geheimnisvolles, Bedrohliches. Nachts, wenn der Blick der Öffentlichkeit schläft. Ist man „mondsüchtig“ wie Semjon, bekommt man auch schon mal einen Freifahrtsschein vom Psychiater ausgestellt, dass man für sein nächtliches Tun nicht verantwortlich ist. Es nützen keine Überwacher, keine Überwacher der Überwacher, und es hilft auch nur bedingt, mittels Mikrophon sein „eigener Spion“ zu sein. Unter der Oberfläche des Alltäglichen brodelt es. Verschiedene Gruppen versuchen Macht zu erlangen, Gewinn aus den Umbrüchen zu schlagen, alles gesteuert über mehr oder weniger gut funktionierende Substanzen, z.B. einer Art Gerechtigkeitsdroge, die quasi versehentlich entstanden ist und dann doch nicht ins Konzept der Mächtigen passt.
Wunderbar absurd komische Szenen reiht der Autor aneinander, oft bedeutungsschwer, doch mit Leichtigkeit erzählt. So ist der Roman auf unterschiedlichen Ebenen zu lesen. Man darf sich den Einzelschicksalen anschließen oder man lernt ein wenig mehr über eine Gegend, die von Auseinandersetzungen und Verwerfungen gezeichnet ist. Wie wir wissen, hat die Geschichte inzwischen die hoffnungsvolle Zeit nach der „orangenen Revolution“ überholt.