Dem Himmel nah

Wenn man unten ist, kommt man ganz nach oben, hinauf in den 19. Stock des Ostturms des Universitätsklinikums Münster. Das Stockwerk heißt nicht Stockwerk, sondern Ebene. Man erreicht die höchste Ebene gewissermaßen, vorausgesetzt man ist unten. Über der Ebene 19 befindet sich nur noch der Himmel und von dem ist man auf Ebene 19 ohnehin nur haaresbreit entfernt, zumindest wenn man die Höhe in der Waagerechten erreicht hat. Die Intensivstation ist nicht mehr neu, laut, lässig, pur, elementar, sauber, rund (der ganze Turm ist rund), zugewandt, klar …

Wenn du ankommst, sind alle da. Geschickte Hände schließen die EVITA an. Schön, dass du sie hast. Du wärst erschossen ohne sie! Das Beatmungsgerät fächelt dir Luft zu. Einer verbindet die Kanüle, die in deiner Handschlagader steckt, mit dem Monitor, außerdem die Strippe, die den zentralen Venendruck misst. Ein anderer stellt den Perfusor an, damit er Noradrenalin in deinen Kreislauf tröpfelt und den mit dem Propofol. Die nächste Blutkonserve wird aufgehängt. Schwester Lea zieht das Laken über dir glatt, checkt mit einem Blick das Gesamtarrangement, nickt und geht.

 

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Du schläfst … und träumst … vielleicht. Dann bist du wach und es ist ein anderer Tag. Neben dir schreit einer auf Spanisch.

Man sagt dir, dass es ganz schön schön ist, dass du noch lebst. Einen kurzen Moment findest du das auch. Dann schläfst du wieder.

Eine Kaffeebraune wischt den Boden. Sie redet nicht. Ein Nachtschwarzer wischt die Monitore ab, sagt nichts. Eine Slawische, weiß der Teufel woher, lächelt verschämt und nimmt den Müll mit.

Dann kommt die weiße Wolke. Sie reden von dir. Zahlen, Abkürzungen, Fachbegriffe. Sie haben einen Geheimcode, in den sie dich nicht einweihen. Dabei geht es um DEINE Nierenfunktion, um DEINE Erythrozyten und um DEIN Herz. Sie reden, als wäre es ihres. Okay, sie haben wenig Zeit, weil sie alles noch aufschreiben müssen. Aber säßet ihr zusammen in einem Café, würden sie es nicht wagen, so unhöflich zu sein. Du sagst: Einen schönen Tag noch. Und sie schauen dich an, als kämst du von einem anderen Stern. Sie sind es einfach nicht gewohnt, dass man mit ihnen spricht. Mach dir nichts draus. Eigentlich sind sie nett. Wirklich. Und es liegt nicht an ihnen. Es liegt an der Lage. Bist du einmal in der Waagerechten, ist alles anders. Du bist auf der Objektebene angekommen. Du bist ihre Arbeit. Und du bist die personalisierte Sprachlosigkeit und damit objekthafter als sie. Schichtwechsel. Du weißt nicht, wie die junge Schöne heißt, die dir den Arsch abwischt. Vielleicht besser so. Solltet ihr euch jemals im Café begegnen …

Überhaupt stellst du fest, dass alle noch elend jung sind. Du bist der alte Sack, der es schafft, dem Himmel sei Dank. Ein bisschen Dramatik gab es schon. Aber ist durch. Schon ein paar Tage her. Ab nun geht es aufwärts. Und sie sind froh, dass du es schaffst. Wirklich. Obwohl sie Deine Geschichte nicht kennen… Sie wissen nicht, was für ein Mensch du warst vor der Katastrophe. Sie kennen nur die Katastrophe. Und die muss bearbeitet werden. Sie wissen nichts von dem Jungen, der sich dem Ganter entgegen stellte. Nichts von dem Mann, der lernte, wie man mit einem Bleistift killt. Nichts von dem, der Töchter und Söhne hatte … Sie kennen nur den Augenblick. Und der ist vom Himmel himmelweit entfernt. Momentan, denn man weiß ja nie, was kommt …

Anmerkung: Damals. Wir hatten kein Fenster zum Himmel. Wir hatten nicht mal einen Gott. Wir waren ein städtisches Krankenhaus in dem unideologisch gerettet und gestorben wurde. Nur manchmal ging ich in die Knie, um vom Kopfende des Menschen, der keine Geschichte hatte, aus, die weiße Wolke zu betrachten. Manche sind gestorben, manche nicht. (Von denen in der Waagerechten und von denen in der Wolke auch.) In zwei Fällen war das in meiner Verantwortung. Also, dass sie nicht gestorben sind. Eine Mutter. Ein Kind. Und nein, ich kannte ihre Geschichte nicht. Ich habe nur meine Arbeit gemacht. Hätte ich sie in einem Café getroffen … Ich hätte mich beschämt gefreut.

2 Kommentare

  1. Meist machen wir nur die Arbeit. Gut, wenn wir irgendwann mal Zeit haben zu überlegen, was wir getan haben. Besser, wenn wir die Zeit dazu bei der Arbeit hätten. Oft ist zu wenig Zeit für einen parallelen 2. Handlungsstrang.

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    1. Ja. Aber nachdenken (ohne die Daten aus den Augen zu verlieren) und manchmal die Perspektive wechseln ist schon nützlich. Für alle.

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