Eine Fabel
Abseits vom Rudel in einem separaten Gehege säugte eine junge Wölfin ihren ersten Wurf. Wie samtige, blinde Maulwürfe hingen die Jungen an ihren Zitzen. Die Wölfin blinzelte in die Sonne, als ein wuscheliges, rosa Malimp zwischen den Gitterstäben hindurch lugte.
„Darf ich rein kommen?“, piepste es und trampelte von einem Füßchen auf das andere. Das tat es immer, wenn es aufgeregt war.
„Komm nur, wenn du dich traust“, knurrte die Wölfin.
Das Malimp schlüpfte durch den Zaun. Eine Weile stand es schüchtern herum, ließ die Pfötchen hängen und schleckte sich mit der Zunge über sein Mäulchen.
„Ich habe Hunger“, jammerte es und fixierte die Futterschüssel der Wölfin mit seinen Knopfaugen. Weil die Wölfin mit ihren Jungen beschäftigt war, weil die Sonne so schön schien und weil ihre Hormone sie in eine fürsorgliche Stimmung versetzt hatten, nickte sie generös.
„Friss, wenn du hungrig bist.“
Das Malimp ließ sich nicht lange bitten, verleibte sich ein Drittel des Futters ein, rülpste und verschwand, nachdem es sich herzlich bedankt hatte.
Was für ein höfliches Tier, so ein Malimp. Und was für ein guter Esser, dachte die Wölfin.
Am nächsten Tag erschien das Malimp erneut, bat um Futter und es wurde ihm zuteil. Von da an kam es täglich, fraß, kuschelte sich an die Welpen, dass es der Wölfin das Herz rührte und ging am Abend heim.
Zwei Wochen später, das Malimp hatte sich ausgiebig gütlich getan, versuchte es, sich durch das Gitter zurück nach draußen zu zwängen. So sehr es sich mühte, es passte nicht hindurch. Traurig blickte es zu seiner Wohltäterin auf. Aber die Wölfin leckte ihm freundlich das rosa Fell.
Was macht das schon, ein Junges mehr oder weniger, sinnierte sie. Von da an blieb das Malimp. Und wuchs. Es wuchs rasch, wurde kräftiger und wuscheliger und rosaner, denn es sprach dem Futter derart zu, dass nur immer ein winziger Teil in der Schüssel zurückblieb. Weil es indes so bezaubernde Äuglein und eine so possierliche Art hatte, ließ die Wölfin es gewähren.
Bald fühlte sie sich schwach und erschöpft, rechnete die Unpässlichkeit jedoch ihrer Mutterschaft zu.
Eines Morgens erwachte die Wölfin. Die Sonne schien, die Vöglein zwitscherten und ein Welpe war verschwunden.
„Wo ist mein Junges?“, fragte sie das Malimp. Das aber zuckte die Schultern, lächelte mitfühlend und wies mit dem Daumen hinter sich. Ein paar Tage trauerte die Wölfin um das verlorene Junge. Was sollte sie tun? Kinder gingen nun einmal fort. Das war das Los der Eltern. Als in einer anderen Nacht das zweite Junge verschwand, klagte die Wölfin laut ihren Schmerz. Das Malimp nahm sie in seine starken, mit weichem Fell umhüllten Vorderbeine, wiegte sie und sang ein liebliches Lied, bis sie sich beruhigte und in einen erholsamen Schlummer fiel. Als sie aus dem Schlaf erwachte, entdeckte sie die kleine Rute des letzten Welpen, die dem Malimp aus dem Maul hing.
Die Wölfin richtete sich auf: „Verräter! Mörder!“, wollte sich auf das Malimp stürzen, setzte zum Sprung an, strauchelte und prallte auf einen Stein. Das Malimp schlug seine spitzen Zähne in die ausgezehrte Wölfin und verschlang sie mit Haut und Haar. Dann legte es sich nieder, strich sich mit seinen Pranken das rosa Fell über dem Bauch glatt, rülpste noch einmal und gab sich einem behaglichen Nickerchen hin.
Moral:
Erste Moral: Traue nicht nur deinen Hormonen, gebrauche deinen Verstand.
Zweite Moral: Wer rosa ist, ist nicht zwangsläufig lieb.
Dritte Moral: Friss es, solange noch Zeit ist.
