Ich bin. Wir sind. Und wir dürfen das.

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Das ist Manfred. Auf diesem Foto ist er drei Jahre alt und es ist der einzige Beweis, dass es ihn gegeben hat. Er starb mit acht in Theresienstadt. Ich weiß nicht, wie viele meiner Verwandten dort umkamen, einige wurden nach Auschwitz deportiert, Josef zum Beispiel, der für das Vergehen, im Café zu sitzen, denunziert wurde.

Als ich Kind war, redeten wir selten davon, laut schon gar nicht. Ein Grauschleier lag über den Gesprächen, die befangen eindringlich geführt wurden. Meine Mutter, eine Davongekommene, starrte vor sich hin. Meine Großmutter zischte Wut und Trauer und Hilflosigkeit. „Sprich nicht davon, draußen“, sagte man mir. In der DDR der 1970er Jahre wurde die Shoa nicht thematisiert, offiziell waren hauptsächlich Widerstandkämpfer in den KZs ermordet worden.

Später, ich zeichnete in einem Vorbereitungskurs an der Hochschule für Graphik und Buchkunst in Leipzig irgendein Stillleben, beschimpfte ein hübscher Blonder den kleinen Drahtigen neben sich: „Halt doch mal die Schnauze, du Jude.“ Er lachte in die Runde. Ich fragte, ob er einen kenne, einen Juden. Bleistiftkratzen in der Stille. „Jetzt kennst du jedenfalls eine Jüdin“, sagte ich, packte meine Mappe und rauschte davon, ins Café. Ich hatte das so gesagt, weil ich wütend war, weil ich diese Herablassung nicht stehen lassen konnte, und weil Jude kein Schimpfwort sein durfte. Tatsächlich wusste ich nicht, was ich war. Im Café traf ich den Schwarzen. Sie nannten ihn alle „den Schwarzen“ wegen seines Haars. Mit ihm sprach ich hinter vorgehaltener Hand. „Du bist auch Halbjüdin, nicht?“ Wir waren die zweite Generation. Die Sprache, die die „Nürnberger Rassegesetze“ in die Köpfe gehämmert hatten, war auch uns eingeprägt. Und wir wussten nichts über uns. Wir waren irgendwie heimlich zugehörig zu etwas, das es nicht mehr gab und das mit Argwohn beäugt wurde. Damals liefen noch ein paar solcher halben Menschen durch Leipzig. Die Jüdische Gemeinde zählte (es muss 1979 gewesen sein) 46 Mitglieder, alles alte Frauen.

Jahre später, ich hatte meinen zweiten Sohn zu Bett gebracht, kramte ich in alten Aufzeichnungen, durchwühlte vergilbte Fotos, surfte im Netz, suchte meine Wurzeln. Da war ich schon Ende Dreißig. Ich fand sie.

„Ich bin Jüdin“, sagte ich leise, dann laut, kostete den Geschmack dieses Soseins. Mir gefiel er. Ich mochte es, „ich bin“ zu sagen. Ein paar Jahre feierte ich mit meiner Familie sämtliche Feiertage, die jüdischen und die christlichen, das sind wirklich eine Menge. Irgendetwas muss man schließlich von der Geschichte haben.

Viele rassistische Sprüche später stoppten wir – Eltern, 3jähriger Sohn, zwei Hunde – das Wohnmobil an einem einsamen See in Mecklenburg. Grölen und das „Deutschlandlied“ von weitem. Nach einem romantischen Sonnenaufgang umringten uns Glatzköpfige mit ihren Mädels. 1999 trug man da noch Glatze. Einer von ihnen gestattet uns huldvoll, auszusteigen. Sie würden uns nichts tun, sagte er. Vielleicht sprachen ja die Schäferhundmischlinge für unser Deutschsein. Ich schob meinen Stern unter die Bluse. Wir machten keinen Gebrauch vom Angebot des Kahlen.

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Am Tag nach der Wahl, bei der zum ersten Mal seit dem Grauen eine rechtsextremistische Partei in den Bundestag einzog, berichtete Sophie Sumburane auf ihrem Blog von den Erfahrungen ihrer bunten Familie mit Rassismus. Ihr Mann, ihre Kinder haben nicht die Möglichkeit, ein Symbol zu verstecken, um nicht als die „anderen“ gesehen zu werden. Sie, die nicht fremd sind, tragen etwas mehr Melanin in ihrer Haut. Einzig das macht sie zu den „anderen“, im Blick der „anderen“.

Liebe Sophie, liebe Menschen mit und ohne Melanin in der Haut, mit und ohne Gott, liebe Alle, die ein friedliches, buntes Gemeinwesen wollen – lasst uns uns verbinden und unterstützen. Ich bin offenen und verdeckten, alten und neuen Scheißrassismus so leid. Gewiss sind jene, die ihn verbreiten, nicht umzustimmen darin, dass es sich lohnt, Gemeinschaft herzustellen, dass das „Andere“ keine Bedrohung darstellt, sondern Bereicherung, die mit Neugier erkundet werden will, dass es nicht verantwortlich ist für erfahrene Kränkungen, für die eigene Misere. Das ist bedauerlich für sie, und für mich. Aber wir werden ihnen nicht die Deutungshoheit von Geschichte, aktuellen Ereignissen und soziale Umständen überlassen, nicht über den Umgang miteinander und nicht über Auffassungen von der Welt. Ja, ich sage „die Anderen“. Es ist eine notwendige Abgrenzung , solange sie alle zu bedrohlichen Fremden erklären, die nicht ihr rigides, inhumanes Weltbild teilen.

Deswegen lasst uns unsere Geschichten erzählen, laut, und jede die ihre, ganz viele. Die machen uns nämlich aus. Wir sind, weil sie uns hineinnehmen in die Geschichte, uns verbinden, uns verstricken. Wir sind, weil sie sind.

3 Kommentare

  1. ja, geschichten erzählen, von dem, wie wir erleben, was uns widerfährt und wie es ungeschönt und tatsächlich passiert: wie sonst könnten wir in der gegenwart ankommen?… – Danke für Deinen sehr berührenden Beitrag.

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  2. Das ist eine sehr ergreifende Geschichte, die bedauerlicherweise keine ausgedachte Geschichte ist, sondern eine selbst erlebte bzw. erfahrene. Wie viel hätten wir zu erzählen, wenn wir mit 1950 anfingen zu schreiben. Leider hat man damals als Kind so wenig darüber reden können bzw. dürfen. Das wäre ein Buch mit selbst erlebten Geschichten wert. Aber gibt es da nicht schon viel zu viele?

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