Ich bin konservativ – beim guten Leben und beim Sex

Als weiße Durchschnittseuropäerin führe ich ein mitteleuropäisches weibliches Durchschnittsleben. Ich bin im Osten Deutschlands groß geworden. In meiner Familiengeschichte gibt es Tote und Vertriebene, Täter und Opfer. Mütterlicherseits lassen sich meine jüdischen Wurzeln bis ins Moskau des 18. Jahrhunderts verfolgen, väterlicherseits war mein Ahne irgendeinen Raubritter. Mein aktuelles Durchschnittsleben hat also mit den Kriegen und Wanderbewegungen der europäischen Geschichte zu tun, vermutlich auch mit Adam und Eva bzw. unbenannten Primaten, je nachdem welcher Auffassung man anhängt. Was auch immer an Grauen, Krieg und Ideologie die Geschichte geprägt hat – heute habe ich’s gut.

Ich habe eine gute Arbeit, eine Familie, ein Haus, ein Auto, einen Hund. Ich habe mehr zu essen, als ich brauche, und eine Hypothek bei der Bank. Ich habe saubere Luft, 3 Hosen, 5 Kleider und ein Bett. Ich habe ein freies Wochenende und Bücher. Ich kann ins Theater und ins Café. Meine Nachbarn sind mehrheitlich freundliche Leute. Ich bin gesund, und wenn nicht, kriege ich geholfen. Ich habe Freunde und die haben mich. Ich fühle mich ausreichend sicher. Ich glaube an meine Wirksamkeit, zumindest meistens. Ich glaube außerdem, dass andere Menschen ebenso ein gutes Leben haben sollten wie ich. Darin bin ich konservativ.

Nun treffen in diesen Tagen zahlreiche Menschen in Städten und Gemeinden ein, die es nicht so gut hatten. Sie kommen aus dem terrorgeschüttelten Norden Nigerias, aus den zerstörten Hochschulen von Damaskus, aus den Elendsquartieren Skopjes. Sie fliehen vor staatlicher und nichtstaatlicher Gewalt durch Folter, Terror und ethnischer Verfolgung. Sie haben einen langen Weg hinter sich. Ich finde, diesen Menschen muss geholfen werden. Da bin ich konservativ.

Jeder von uns hat etwas, was er einem anderen geben kann. Kleidung, Hausrat, Wohnraum, Geld, Zeit. Viele haben Netzwerke, berufliche Kompetenzen, organisatorische oder sprachliche, die hilfreich sein können. Es ist notwendig, die zu nutzen, um geflohenen Menschen eine Basis für den Start in ein neues, hoffentlich gutes Leben zu verschaffen. Hilfe für Flüchtlinge ist neben dem altruistischen Aspekt auch ganz in unserem eigenen Sinne, die wir schon länger hier wohnen, denn unterstützen wir jetzt nicht, programmieren wir heute die Probleme von morgen. In diesem Sinne bin ich geradezu physikalisch konservativ.

Der Flüchtlingsrat bündelt Aktivitäten von freiwilligen Unterstützern und Vereinen. In jeder Stadt, in jeder Gemeinde gibt es Verbände, denen man sich anschließen kann, damit die Versorgung von Flüchtlingen gelingt. Niemand ist verpflichtet, aber jeder darf mitmachen. Nach meiner Vorstellung sollte das auch jeder. Da bin ich konservativ.

Also los! Informiert Euch! Bringt Eure Ideen, Eure Energie, Eure Zeit, Eure verfügbaren Ressourcen ein!

Niemand soll das über seine eigenen Verhältnisse hinweg tun, das nützt nämlich auch keinem. Aber es gibt bestimmt Stunden, in denen man mit Kindern deutsch lesen üben kann z.B. Oder man kann das ungenutzte Fahrrad abgeben. Man kann jemanden zum Amt begleiten und sich durch die Formblätter schlagen … Fragt nach, was gebraucht wird.

Es ist für Quatsch, ausschließlich auf staatliche Mittel zu setzen. Die müssen selbstverständlich auch her. An der Stelle können Menschen helfen, die z.B. zuständig dafür sind, das öffentliche Gesundheitswesen zu unterstützen oder mehr Verwaltungsangestellte für die Registrierung und Verteilung von Flüchtlingen einzustellen. Man beachte, dass da Menschen arbeiten, die nicht einfach „die da oben“ sind.
(Nach meinen Möglichkeiten, helfe ich natürlich mit, is klar. Freizeitlich psychotherapeutisch. Da gibt es genug zu tun.)

In unseren Breiten ist es ja nicht üblich, über Erfolg zu reden, zumindest nicht über den eigenen. In dem Falle, ist es aber notwendig.
Redet darüber, wenn Ihr etwas hingekriegt habt. Wenn Ihr ein tolles Fest mit Neuankömmlingen gefeiert habt. Wenn eine Familie einen Ort zum Leben gefunden hat. Wenn ein mazedonisches Kind, seinen ersten deutschen Satz sagt.

Was immer Euch gelungen ist – Redet darüber!

Es ist selbstverständlich gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt zu sein. Und wichtig, das klar zu sagen, sicher.
Etwas zu MACHEN und über das Gelingen zu sprechen, ist noch besser!
Da bin ich jetzt nicht so konservativ.

Trinken wir auf unser aller gutes Leben, aufs Gelingen! Und dann los …!

(Und was ist nun mit dem Sex?
Ehrlich gesagt, hab ich das nur geschrieben, damit das hier jemand liest, sorry.)

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